Interview mit Dr. Werner Stark – 2. Teil
Dr. Werner Stark, Honorarprofessor an der Philipps-Universität Marburg und weltweit bekannte Expert in der historisch-orientierten Kantforschung, hat freundlich auf unsere weitere Fragen beantwortet. Damit alle Antworten klar sind, müssen Fragen numeriert bleiben.
1. Welche Rolle in Ihrer Tätigkeit spielten Kontakten und Zusammenarbeit mit Kollegen aus UdSSR und Russland? Vielleicht, nicht nur die Kant-Forschern…
— Leider habe ich – wohl auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse auf meiner Seite – ausserhalb der Kant-Forschung im weitern Sinn keine Kontakte zu anderen Wissenschaftlern.
2. Wann und wie haben Sie Russland zum ersten mal besucht? Welche Veränderungen waren bei den nächsten Besuchen auffällig? Oder irgendwelche lebendige Eindrücke?
— Unvergeßlich sind mir meine beiden ersten Besuche sowohl in Kaliningrad (Herbst 1990) als auch in Moskau (Januar 1992). Beide Besuche galten meinen Recherchen nach den seit 1945 verschollenen Kant-Handschriften der früheren Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Eindrucksvoll war die Begegnung mit Menschen, auf die ich dort getroffen bin. Herr Kalinnikov und der allzu jung verstorbene Vladimir Bryushinkin haben meine Arbeit stets wohlwollend unterstützt. Ähnliches gilt auch für Moskau, doch bin ich dort als Wissenschaftler selbst nur ein einziges Mal gewesen. Jüngere russische Kollegen haben sich später ebenfalls für die Suche nach den verschwundenen, unersetzlichen Dokumenten für Leben und Werk von Immanuel Kant interessiert: Vadim Kurpakov und Alexei Krouglov. Mit beiden stehe ich seither im beständigen Kontakt.
3. Welchen Eindruck haben Sie von der Entwicklung der Kant-Forschung in Russland?
— Hier muß ich überwiegend passen wegen mangelnder Sprachkenntnisse auf meiner Seite.
4. Sehen Sie irgendeine Tendenzen in der Entwicklung der Politik und der politischen Kultur in Russland?
Wie 3.
5. Haben Sie eine klare Vorstellung über die Grundlagen der russischen Bildungssystem im Vergleich mit der europäischen bzw. der deutschen?
— Leider nicht genügend, vor allem ist mir unklar, ob und wie das System nach dem Untergang der Sowjetunion verändert wurde. Haben die Universitäten inzwischen eine größere Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen?
6. Es ist sehr interessant, etwas von Ihrer politischer Tätigkeit zu erfahren. Sie sind Abgeordnete in Ihrer Kreis – stimmt das?
— Ja, ich bin ein wenig auf der politischen Klein-Bühne des Dorfes ›Cölbe‹ unterwegs, in dem ich seit nunmehr 18 Jahren lebe, teils als Mitglied der ›Gemeindevertretung‹ und teils als Mitglied des ›Gemeindevorstands‹. Momentan ist dies Geschäft wenig erfreulich, weil die Gemeinden im Dreiklang der öffentlichen Hände (Gesamtstaat, Bundesland, Städte und Gemeinden) in der schwächsten Position sind; denn die Gesetzeshoheit – und damit der entscheidende Zugriff auf finanzielle Ressourcen – ist den beiden oberen Instanzen vorbehalten. Mit der Folge, daß die Gemeinden zunehmend in finanzielle Engpässe geraten. Das Ganze ist für mich als historisch denkendem Menschen etwas paradox: Städte und Gemeinden sind vielfach wesentlich älter als der heutige Gesamtstaat oder die nach 1945 bzw. 1989 gegründeten Bundesländer. Auch unter dem Aspekt der Demokratie sind die Gemeindevertreter direkter mit den Wählern verbunden; wegen der Ortsnähe leben alle im selben Umfeld und begegnen sich dort direkt. Dies ist auch einer der Gründe, die mein Engagement vor Ort tragen.
7. Wie steht es heutzutage in Deutschland mit der Beachtung des Kants Gebot, dass „die Staaten“ den Philosophen die Redefreiheit lassen und Ihre Meinung zu Rate ziehen?
— Die Frage erfordert – nach meiner Ansicht – einen sehr weiten Blick und dennoch viele Detail-Informationen, deswegen möchte ich darauf nicht wirklich antworten. Wenn man sich dafür interessiert, sollte der Blick auf Verbände und Organisationen der Wissenschaftler überhaupt gerichtet werden. Ich sehe nicht, daß heute den ›Philosophen‹ eine besondere Rolle im politischen Leben oder der Öffentlichkeit zukommt; es sei denn, es geht um ›Leben oder Tod‹: In ›Ethik-Kommissionen‹ sind Philosophen, neben Medizinern, Juristen und Theologen aktiv beteiligt: Anscheinend wirkt hier noch die alte, in vier Fakultäten gegliederte Universität etwas nach.
8. Könnten Sie ein Paar Beispiele dafür einführen, dass Kantische Ideen einen gewissen Einfluss auf die Kultur und auf die rechtlich-politische Ordnung Deutschlands gewonnen haben?
— Eine sehr interessante Frage, die ebenfalls zu einem weiten Ausflug einlädt, doch ich möchte ganz kurz antworten: Im ersten Paragraphen unserer ›Grundgesetzes‹, d. h. der Verfassung, findet sich ein essentieller Begriff der Kantischen Ethik: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Historisch gesehen, ist diese Formulierung kaum nachvollziehbar ohne die von Kant 1785 veröffentlichte ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. So meine ich wenigstens, oder kennen Sie eine Verfassung eines anderen, modernen Staates in der der Begriff der ›Menschenwürde‹ so weit oben angesiedelt ist?
9. An welchen Projekten Arbeiten Sie jetzt?
— Woran ich jetzt arbeite? Es sind drei Gebiete oder Themen: (1) Edition einer Kantischen Handschrift, die ich zusammen mit polnischen Kollegen vor über 10 Jahren in der früheren Stadtbibliothek Danzig gefunden habe. (2) Edition der studentischen Nachschiften über die Physische Geographie. (3) Eine Frage: Was genau ist das Beweisziel der ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹?
10. Könnten Sie den Schleier des Geheimnisses lüften: Was interessantes enthält das Marburger Kant-Archiv?
— Das Marburger Kant-Archiv ist im wesentlichen ein Sekundärarchiv, d. h. dort finden sich überwiegend Kopien (Filme / Digitalisate / Xerokopien) von Kantischen Handschriften sowie der studentische Nachschriften seiner Vorlesungen. Eine kurze Übersicht ist 1988 in den ›Kant-Studien‹ erschienen. Und – in Marburg sind zwei für eine historisch ausgerichtete Kant-Forschung wichtige Einrichtungen: Die Universitätsbibliothek (zahlreiche Erstdrucke der Kantischen Schriften, drei Handschriften seiner Studenten) und das Herder-Institut mit seinen vielfältigen Sammlungen zu ehemaligen Siedlungsgebieten von Deutschen in Ost- und Mittel-Europa.
11. Sind in Kants Philosophie, Ihrer Meinung nach, in manchen größeren oder kleineren wesentlichen Punkten ungelöste Wiedersprüche geblieben?
— Die Widersprüche (Ich würde lieber von Differenzen sprechen.) in ›der‹ Kantischen Philosophie lassen sich häufig auflösen bzw. verständlich machen, wenn man die Schriften historisch-genetisch liest und nicht meint, daß diese insgesamt als ›ein System‹ gedacht werden müssen.
12. Rechtlich-politische Universalismus von Kant – wie sehen Sie seine Bedeutung für heute? Ist es von heutigen Wirklichkeit gestützt?
— Auch heute läßt sich von der Art und Weise, wie Kant philosophiert hat, noch lernen, vor allem das Nachdenken und diesen Prozeß zu einem bestimmten Ende zu bringen.
Interviewiert von Andrey Zilber