Vladimir Bryusсhinkin. Logik und Rationalität in der Philosophie Kants
Rationalität im kommunikativen Aspekt ist das Bestreben der Kommunikationspartner, eine optimale Verständigung zwischen einander zu garantieren. Rationalität stellt also Bedingungen dar, die an die Kommunikation gestellt werden. Diese Bedingungen darauf hinaus, dass die kommunizierenden Subjekte imstande sein sollen, für ihre Handlungen oder Meinungen ausreichende Gründe ins Feld zu rücken, die auf die Allgemeingültigkeit oder wenigstens auf die Gültigkeit für die beiden kommunizierenden Subjekte Anspruch erheben können. Die unten folgende Definition bringt solch einen kommunikativen Begriff der Rationalität zum Ausdruck, nämlich: Rationalität ist eine solche Eigenschaft der Handlung oder des Denkens, im Einklang mit welcher das kommunizierende Subjekt für seine Handlungen oder Gedanken allgemein gültige Gründe ihrer Möglichkeit oder Wahrheit anzuführen bestrebt ist, die die Adäqua-theit des Verständnisses dieser Handlungen oder Gedanken seitens des Adressaten sichern.
Der theoretischen Philosophie Kants liegt ein spezieller Fall der kommunikativ ausgelegten Rationalität zugrunde. Kant abstrahiert von der Eigentümlichkeit der Organisation der Vernunft des Adressanten und des Adressaten der Kommunikation und versucht das Bild eines vernünftigen Wesens überhaupt zu modellieren. Die Kommunikation zwischen den vernünftigen Wesen überhaupt ist es, was Kants Verständnis der Kommunikation ausmacht und was seiner Theorie der Vernunft (Rationalität) zugrunde liegt. In diesem Sinne fallen das Subjekt der Kommunikation und das Adressat derselben zusammen und die Rationalität läuft auf den Aufbau einer Theorie der Vernunft hinaus. Dabei fällt die Rationalität mit den Bedingungen überein, die dem Subjekt es ermöglichen, eine allgemeingültige Wahrheit zu verstehen. Die Bedingungen aber, unter welchen ein Urteil als allgemeingültig anerkannt wird, werden nach Kant durch die Logik bestimmt. Die Logik tritt als Kanon und als negatives Kriterium der Wahrheit auf. Eben deshalb legt Kant die allgemeine Logik der Theorie der Vernunft und der Bestimmung der Rationalität des Denkens zugrunde. Doch interpretiert er die Logik nicht bloß metaphysisch/ontologisch (das hat schon Wolff, indem er Aristoteles folgte, gemacht), sondern er versucht einen für die Transzendentalphilosophie geeigneten Begriff der Rationalität auf der Basis der Logik zu konstruieren. Kant selbst hat sich mehrmals dazu geäußert.
So finden wir z. B. in der “Kritik der reinen Vernunft“ folgendes: „Die allgemeine Logik ist über einem Grundrisse erbaut, der ganz genau mit der Einteilung der oberen Erkenntnisvermögen zusammentrifft. Diese sind: Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Jene Doktrin handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, gerade den Funktionen und der Ordnung jener Gemütskräfte gemäß, die man unter der weitläufigen Benennung des Verstandes überhaupt begreift“ [A 169f/B 130f]. Diese Äußerung zeugt von der Gemeinsamkeit der Pläne der Logik und der Transzendentalphilosophie, aber offen bleibt die Frage nach der genetischen Ursprünglichkeit. Eine Antwort darauf gibt uns die Struktur der Transzendentalen Logik Kants, die sich in zwei Teile gliedert: in die Analytik und Dialektik. Die Analytik gliedert sich ihrerseits in die Analytik der Begriffe und die Analytik der Grundsätze. Es ist nicht schwer, das Vorbild solch einer Einteilung aus der Struktur der Logik abzuleiten. Außerdem beginnt die Kritik jedes Erkenntnisvermögens mit seiner Behandlung in der Logik (des logischen Gebrauchs dieses Vermögens). Aber die gegenseitige Beziehung der Logik und der Transzendentalphilosophie beschränkt sich nicht auf die strukturelle Identität. Kant benutzte auch die im Rahmen der Logik gewonnenen Ergebnisse, namentlich die Klassifikation der Urteile, die das Fazit der Jahrhunderte dauernden Erfahrung der logischen Wissenschaft bei der Ermittlung der logischen Funktionen des Verstandes enthält. Deshalb machte Kant von einer ihrer Modifikationen Gebrauch, um seine Tabelle der Kategorien aufzustellen, deren Aufgabe es war, Begriffe aufzuzählen, die für den Aufbau seines apriorischen Systems des Verstandes notwendig waren. Kant spricht unzweideutig von der wesentlichen Rolle der formalen Logik bei der Aufstellung seiner Tafel der Kategorien in den „Prolegomena…“, nämlich: „Hier lag nun schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir, dadurch ich in den Stand gesetzt wurde, eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunctionen, die aber in Ansehung alles Objects unbestimmt waren, darzustellen“ [AA IV, S. 323—324]. In der transzendentalen Dialektik greift Kant auch zur „natürlichen Beziehung, die der transzendentale Gebrauch unserer Erkenntnis, sowohl in Schlüssen, als Urteilen, auf den logischen haben muß, …“ [A 333 / B 390]. Diese „natürliche Beziehung“ gebraucht Kant weitgehend bei der Bestimmung des transzendentalen Vernunftbegriffes, er sagt nämlich: „Das formale und logische Verfahren derselben [der Vernunft] in Vernunftschlüssen gibt uns hierüber schon hinreichende Anleitung, auf welchem Grunde das transzendentale Prinzipium derselben in der synthetischen Erkenntnis durch reine Vernunft beruhen werde” [A 306/B 363].
Indem Kant das Fazit der modellierenden Rolle der allgemeinen Logik beim Aufbau der transzendentalen Logik zieht, spricht er davon, dass „wir können erwarten, dass der logische Begriff in sich auch den Schlüssel zum transzendentalen Begriff enthält…“. Er gebraucht auch solche Ausdrücke wie: „…die ganze Logik, und nach ihr die Transzendental-Philosophie…“ [B 134f]. Also, indem Kant einen neuen Wissensbereich — die Transzendentalphilosophie — schuf, machte er natürlicherweise von einer schon fertiger und ausgebildeter Wissenschaft — der Logik — Gebrauch, die als die einzige ausgebildete und systematische Wissenschaft vom Denken ihm zum Model für die Schaffung einer neuen — transzendentalen — Logik diente.
Damit die schon bestehende Logik die Rolle eines Musters zur Herausbildung der Konzeption der Vernunft und Rationalität spielen konnte, und zum Aufbau einer neuen Metaphysik geeignet sein könnte, schlägt Kant es vor, die vorhandene Logik einem solchen Gebrauch anzupassen. Die Logik, die Kant aus den Lehrbüchern jener Zeit bekannt war, war mit empirischen Beobachtungen schon genügend bereichert. Doch Kant brauchte für seine Theorie der Vernunft solch eine Wissenschaft, auf die er in seinem Bestreben, eine vollständige und abgeschlossene apriorische Theorie der Vernunft aufzubauen, voll und ganz stützen könnte. Solch eine Wissenschaft sollte selbst abgeschlossen und a priori sein. Und er meinte, dass Logik gerade eine solche Wissenschaft war. Davon zeugt seine berühmte Äußerung aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe „der Kritik der reinen Vernunft“, nämlich: „Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus ersehen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die Wegschaffung einiger entbehrlicher Subtilitäten, oder deutlichere der Bestimmungen der Vorgetragenen, als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehört. Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“ [B VIII]. Die Schlüsselwörter sind hier: „geschlossen und vollendet“.
Kant übernimmt diese These in einem gewissen Widerspruch mit der Geschichte der Logik. Und wirklich, nach dem Aristoteles wurde ein bedeutender Fortschritt in der Logik von den Vertretern der hellenistischen Schule der Stoiker erzielt. Sie haben nämlich im Unterschied zur Syllogistik des Aristoteles das eingeführt, was wir heute als Elemente der Aussagenlogik bezeichnen könnten. Das war eine radikale Innovation in der Logik. Dass Kant diese Errungenschaft in der Logik ignoriert hat, ist dadurch zu erklären, dass er eben eine geschlossene Wissenschaft der reinen Vernunft brauchte und „in ihr also der Verstand mit nichts weiter als sich selbst und seiner Form, zu tun“ haben sollte [A IX]. Wozu brauchte er ausgerechnet eine solche Wissenschaft? Er hoffte mit ihrer Hilfe dazu gelangen, ein Verfahren zu finden, die Existenz der reinen Verstandesbegriffe zu beweisen und den Nachweis ihrer apriorischen Herkunft zu liefern. Wenn diesen Begriffen logische Funktionen zugrunde liegen, die durch verschiedene Formen der Urteile ausgedrückt werden, deren vollständige Klassifikation in einer vollständigen und apriorischen Wissenschaft präsent ist, d. h. in der allgemeinen reinen Logik, so sind diese Begriffe an und für sich rein und a priori gegeben. Deshalb können sie uns die Struktur des apriorischen Wissens aufgeben, welches die rationale Komponente eines jeden Wissens, einschließlich des empirischen ausmacht. Die allgemeine reine Logik lieferte Kant einen festen Boden zum Fundament der Transzendentalphilosophie. Dieser Umstand und die vorhergehende Wolffianische Tradition erklärt uns die Bedeutung der allgemeinen Logik für das ganze Wissen überhaupt, das philosophische miteinbegriffen. Die allgemeine Logik gibt uns, so Kant, ein Kanon für die Auswertung eines jeden Wissens. Sie ist das allgemeine negative Kriterium der Wahrheit, d. h. alles, was diesen negativen Kriterien widerspricht ist a priori falsch. Die Regeln der Logik müssen für jede Art Wissens — apriorischen oder aposteriorischen — gültig sein, damit dieses Wissen die Wahrheit beanspruchen kann. Es gibt viele Aussagen Kants zu diesem Thema sowohl in seinen veröffentlichten Werken, als auch in seinen nachgeschriebenen Kollegien sowie in anderen Schriften. Das bedeutet, dass die Befolgung der logischen Regeln für Kant eine unabdingbare Bedingung einer jeden Art Rationalität sowie jeder Art Tätigkeit des Verstandes und der Vernunft sein muss, die Wahrheit beanspruchen.
Es gibt noch einen viel tieferen Sinn des Verhältnisses zwischen Logik und Rationalität. Darauf verweist Jorgio Tonelli, wenn er auf die Beziehung der Tafel der Urteile zur Kategorientafel eingeht, nämlich: „Kant war überzeugt, dass er in den Urteilsformen die Ursache der grundlegenden Harmonie zwischen dem reinen Verstandesdenken und dem Denken überhaupt, d. h. der allgemeinen Logik entdeckte“ [1, S. 233].
Sehen wir zu, ob Kant selbst an diese notwendige Bedingung bei seinem Versuch eine Theorie der Tätigkeit des Verstandes und der Vernunft zu schaffen, gehalten hatte? Es hat einen Sinn, die Position Kants gerade in diesem Hauptpunkt der Verbindung der allgemeinen Logik mit der Rationalität in seiner Transzendentalphilosophie zu überprüfen. Wir wollen zuerst die Kantische Klassifikation der Urteile als System der logischen Funktionen des Denkens auf ihre logische Gültigkeit prüfen. Wir nehmen für die Analyse die Rubrik der Qualität. Der Qualität nach unterteilt Kant die Urteile in bejahende, verneinende und unendliche. Aber als Trichotomie ist diese Einteilung unzulänglich, weil dabei gegen die Regel des Ausschlusses verstoßen wird (die Glieder der Teilung sollen einander ausschließen). Die Sache ist die, dass die unendlichen Urteile auch bejahende Urteile sind. Man kann nicht sagen, dass Kant diesem Umstand keine Rechnung trägt. Wenn in der „Kritik der reinen Vernunft“ er kein Wort darüber sagt, dass die unendlichen Urteile eine Abart der bejahenden Urteile sind, so spricht er in der Logik Pölitz (1789) wie folgt: „Bejahung und Verneinung sind Eigenschaften der Urteile. Wenn aber die Verneinung auf die Kopula nicht einwirkt, so ist das kein verneinendes, sondern ein bejahendes Urteil, weil die Kopula der Verbindung dient. Das gilt sowohl für das bejahende Urteil, aber auch nicht weniger für das unendliche Urteil“ [AA, XXIV, S. 578].
Nehmen wir an, dass hier zwei nach einander folgende Einteilungen vorliegen, in deren ersten wir die Urteile in bejahende und verneinende gliedern, und in der zweiten werden bejahende Urteile in endliche und unendliche eingeteilt. Schematisch würde das folgendermaßen aussehen:
Dabei sind die endlichen bejahenden Urteile mit dem positiven Prädikat versehen (es zeugt vom Vorhandensein einer Eigenschaft oder einer Beziehung), unendliche aber mit dem verneinenden Prädikat, welches von dem Nichtvorhandensein einer Eigenschaft oder einer Beziehung.
Dann bieten sich sofort folgende Schlussfolgerungen an:
1. Die verneinenden Urteile werden nicht den bejahenden Urteilen überhaupt, sondern einer Abart der bejahenden Urteile entgegengesetzt. Bei Kant ist dieser Umstand durch den Gebrauch des Terminus “bejahendes Urteil” für die endlichen bejahenden Urteile getarnt, aber das ist, wie es leicht einzusehen ist, die Verletzung des Gesetzes der Identität, d. h. es findet eine Begriffsauswechslung statt.
2. Die Glieder der Einteilung, die zu verschiedenen Ebenen gehören, werden als gehörig zu einer und derselben Ebene behandelt. Das ist die Verletzung der Regel der konsequenten Einteilung. Der logische Fehler lautet: der Sprung in der Einteilung (saltus in dividendo).
Wenn wir auch die folgerichtige Einteilung nicht beachten, sondern unser Augenmerk nur auf das Verhältnis nach dem Umfang lenken, so müssen wir die endlichen bejahenden, die verneinenden und die unendlichen Urteile ausgliedern. Aber dann entsteht der Fehler des einheitlichen Grundes der Einteilung, nämlich: endliche und unendliche Urteile werden nach dem Merkmal der Prädikatenqualität (positiv- negativ) unterschieden, die verneinenden aber werden nach der Qualität der Kopula („ist“ versus „nicht ist“) unterschieden. Außerdem, wenn wir konsequent sein wollen, müssen wir noch verneinende undendliche Urteile einführen, z.B. „Die Seele ist nicht unsterblich“. Dann wird unsere Klassifikation wie folgt aussehen:
In diesem Fall wird die Klassifikation der Urteile logisch richtig ausfallen, indem sie die Form einer komplizierten dichotomischen Einteilung annimmt. Dafür aber wird die Kantische Trichotomie zerstört, die so wichtig für seine Tafel der Kategorien ist. Solch eine Einteilung sagt uns folgende Frage vor: Ob die unendlichen bejahenden Urteile den endlichen verneinenden Urteilen und die unendlichen verneinenden Urteile den endlichen bejahenden äquivalent sind? Diese Frage ist der folgenden äquivalent: Ob das Gesetz der doppelten Verneinung sowohl für die Verneinung der Kopula (die propositionelle Verneinung) als auch für die Verneinung des Terminus gültig ist? Wenn ja, dann fügt die Ausgliederung der unendlichen Urteile nichts zu ihrer Einteilung in bejahende und verneinende Urteile. Aber Kant scheint einer anderen Meinung zu sein. In der Logik Pölitz wird folgendes behauptet: „In den unendlichen Urteilen stelle ich mir vor, daß das Subjekt sich in einer anderen Sphäre als in der Sphäre des Prädikats befindet. Im Urteil „anima est non mortalis“ stelle ich mir vor, dass die Seele zum Sterblichen nicht gehört, aber ich denke noch mehr, nämlich daß sie zum Unsterblichen gehört, ich stelle sie mir so vor, als ob sie in einer gewissen anderen Sphäre als die Sphäre des Prädikats existiert“ [AA, XXIV, S. 578].
Dieses „denke noch mehr“ spricht dafür, dass die terminale Verneinung im Vergleich zur propositionalen etwas zusätzliches enthält. Aber in welchem Fall ist dieser Zusatz möglich? Nur in dem Fall, wenn wir nicht nur umfängliche (extensionale) Verhältnisse der Termini berücksichtigen, sondern noch etwas, was über diesen Rahmen hinausgeht. Und dieses „etwas“ gehört schon dem Inhalt (Materie) des Urteils an. Das ist nicht zu verwundern, weil Kant selber unter der Form des Urteils nur die Eigenschaft der Kopula versteht und die Termine (und ihre Abarten) zur Materie des Urteils hinzuzählt. Also, die Ausgliederung von unendlichen Urteilen liegt außerhalb der Logik, die, so Kant, nur nach der Form des Denkens geht, sowie nicht auf die Trichotomie, sondern auf die Tetrachotomie hinausläuft, was den Absichten Kants zuwiderläuft.
Dieselben Fehler macht Kant auch in allen anderen Fällen. Keine von seinen Einteilungen in der Urteilstafel ist logisch korrekt, denn sie alle verstoßen gegen die logischen Regeln der Einteilung. Daraus ergibt sich, dass Kant, der die Regeln der Logik für das universelle negative Kriterium der Wahrheit hält, selbst eben diese Kriterien verletzt und seiner Transzendentalphilosophie offensichtlich falsche Thesen zugrunde legt. Außerdem kann man leicht zeigen, dass es in der Logik der damaligen Zeit richtige Einteilungen gegeben hat und sie waren Kant nicht unbekannt.
Die oben zum Ausdruck gebrachten Überlegungen lassen uns wie folgt schlussfolgern: Kant hat in seiner Urteilstafel alle uns bekannten Regeln der Einteilung verletzt, ungeachtet dessen, dass es in der wissenschaftlichen Literatur zur Logik der damaligen Zeit Beispiele korrekter Einteilungen gegeben hatte. Das bedeutet, dass die Unkorrektheit seiner Einteilungen, wie offensichtlich sie auch war, Kant unbewusst war.
Diese Schlussfolgerung ergibt zwei interessante Fragen: 1) Warum trug Kant seiner Verletzung der Einteilungsregeln keine Rechnung? 2) Welche Folgen hatte seine logisch unkorrekte Art und Weise der Einteilung der Urteile auf seine nachfolgenden Ausführungen in der „Kritik der reinen Vernunft“ und auf die Beziehungen zwischen der formalen und der transzendentalen Logik?
Die Antwort auf die erste Frage, obwohl sie zum Teil zur Psychologie gehört, ist sehr einfach, nämlich: weil er schon die im Voraus bestimmten Beziehungen zwischen den Kategorien hatte, deren Begründung der Urteilstafel oblag, welche sich auf die Autorität der Logik berief. Kant brauchte aber eine Begründung für seine Urteilstafel, von der er schon im Voraus eine Vorstellung hatte. Eine solche Antwort auf unsere Frage ist uns aus der überlieferten Literatur bekannt. Schon die ersten Kritiker Kants Herbart und Hegel warfen Ihm vor, dass seine Urteilstafel empirisch ist und eine aufs Geratewohl aufgegriffene Auswahl von Urteilen darstellt, die in der Logik der damaligen Zeit geläufig waren. Für die allmähliche Ausbildung der Urteilstafel entsprechend seiner Vorstellung von der Kategorientafel spricht der Umstand, dass er beispielsweise in der Rubrik der Qualitätsurteile zuerst nur bejahende und verneinende Urteile ausgliederte und die unendlichen Urteile scheint er später zugunsten der Trichotomie der Kategorientafel eingeführt zu haben. Also, Kant hat die Interessen der logischen Strenge aufgeopfert, um die triadische Struktur der Kategorien aufzustellen. Denn gerade zum Behuf der Aufstellung solch einer Struktur musste er zur Verletzung der Regel der Einteilung aus einem einheitlichen Grund greifen sowie auf die Vollständigkeit und Kontinuität der Teilung verzichten. In seinen Vorlesungen zur Logik spricht er ständig darüber, dass nur die dichotomische Einteilung rein logisch und a priori ist, aber jegliche Polytomie auf der Erfahrung gründet und empirisch ist. Diese seine Meinung drückt er in der Logik Pölitz wie folgt: „Jede Polytomie hat den Mangel, dass sie empirisch, während die Dichotomie apodiktisch ist, weil jedes Ding „a“ oder „nicht-a“ sein soll [AA, XXIV, S. 577]. Doch sobald von der Kategorientafel die Rede, ändert sich seine Stellung dazu. Ich führe die Anmerkung aus der Logik Pölitz an, die gleich nach der Tafel der Kategorien folgt, die er der ersten „Kritik…“ entnimmt: „Obwohl die Logiker darauf hinweisen, dass beim Gebrauch die bejahenden Urteile dieselbe Gültigkeit wie die unendlichen, die allgemeinen dieselbe wie die einzelnen Urteile aufweisen, doch ist dieser Unterschied logisch. Actus des Verstandes ist dennoch trichotomisch…“ [AA, XXIV, S. 577]. Allmählich kommt Kant zu der Ansicht, dass die Trichotomie den synthetischen apriorischen Einteilungen eigen ist. In der „Kritik der Urteilskraft“ heißt es schon mit Bestimmtheit folgendes: „Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Einteilungen in der reinen Philosophie fast immer dreiteilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Einteilung a priori geschehen, so wird sie entweder analytisch sein, nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweiteilig (quodlibet ens est aut A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und, wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori … soll geführt werden, so muß, nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes, 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Einteilung notwendig Trichotomie sein“ [AA, V, S. 197f]. Was die Urteilstafel anbetrifft, so war diese Umänderung der Position, wie mir scheint, faktisch ein Versuch, das Verfahren der logischen Einteilung an die schon fertige Struktur der Kategorien anzupassen, weil die allgemeine Logik das Problem der synthetischen Urteile a priori nicht kennt „sogar dem Namen nach“. Der Anspruch Kants auf die Apriorität seines Kategoriensystems in der „Kritik der reinen Vernunft“ bestand gerade darin, dass die Klassifikation der Urteile der allgemeinen Logik obliegt. Hier kann man nicht umhin, darin den Keim der künftigen Feindseligkeit Hegels der formalen Logik gegenüber zu sehen. Eben Hegel war es, der die Triade zum leitenden Prinzip der Aufstellung seines Kategoriensystems machte. Am Beispiel Kants ist es zu sehen, dass man zum Behuf des triadischen Prinzips der Aufstellung des Kategoriensystems der Logik Zwang antun musste.
Die Antwort auf die zweite Frage ist viel schwieriger.
Kant selbst bewertet seine auf der Urteilstafel beruhende metaphysische Deduktion der Kategorien wie folgt: „In der metaphysischen Deduktion wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan…„ [B 159].
Die apriorische Herkunft der Kategorien ist im Wesentlichen mit Vollständigkeit und Kontinuität der Kategorientafel verbunden. Doch unsere Analyse der Kantischen Tabelle der Urteile zeigt, dass eine Klassifikation, welche gegen die logischen Regeln der Einteilung verstößt, nicht als konsistent gelten kann. Es stellt sich heraus, dass sich die Urteilstabelle Kants auf die Logik nicht stützt und folglich uns kein vollständiges und konsequentes System der logischen Funktionen des Denkens liefert. Es scheint, dass Kant selbst ahnte, dass die Art und Weise der von ihm vorgenommenen Anordnung keine logische ist. Nehmen wir beispielsweise die Rubrik der Modalität. Eine korrekte logische Einteilung lässt die Anordnung der assertorischen Urteile zwischen den möglichen und den wirklichen nicht zu, weil die assertorischen Urteile zur Klasse der nicht modalen Urteile gehören. Kant, indem er diese Schwierigkeit zu überwinden sucht, beschreibt nicht die logischen Charakteristiken der Urteile, sondern ihren erkenntnistheoretischen Status in Form ihrer allmählichen Zuteilung zum Verstand und der Veränderung dadurch ihrer erkenntnismäßigen Potenzen [A 75/B 101]. Eine solche logisch unkorrekte Einteilung in der Urteilstafel zeigt, dass es Kant nicht gelungen ist, die apriorische Herkunft der Kategorien zu begründen und auch seine metaphysische Deduktion der Kategorien wird dadurch um ihre Grundlage gebracht. Apropos, Hegel hat das sofort verstanden und damit begonnen, sein System der Kategorien auf leerem Boden aufzubauen, um möglicherweise den Widerstand des Materials zu entgehen, auf welchen Kant stieß.
Die in diesem Vortrag unternommene Analyse der logischen Konsistenz der Kantischen Urteilstafel lässt folgendes schlussfolgern:
1. Die Kantische Urteilstafel ist logisch unhaltbar, weil in jeder ihrer Rubriken die Regeln der Einteilung verletzt werden, die sowohl der Logik der damaligen Zeit als auch Kant selbst bekannt waren.
2. Die Analyse der Ursachen dieser Verletzungen in jeder Rubrik hat gezeigt, dass es Kant nicht gelungen ist, die von ihm gestellte Aufgabe, sich „von allem Inhalte eines Urteil überhaupt abstrahieren und nur auf die bloße Verstandesform darin achtgeben” [A70/B95], zu lösen. Das bedeutet, dass seine Urteilstafel mit der allgemeinen reinen Logik nichts zu tun hat, sondern nach irgendwelchen anderen nicht logischen Prinzipien aufgebaut ist.
3. Der Kantischen Urteilstafel liegen nicht die logischen, sondern transzendentalen Prinzipien, die mit der Möglichkeit der Erkenntnis des Objektes verbunden sind, zugrunde. Das zeugt von dem Vorhandensein des logischen Kreises in der Kantischen Deduktion der Kategorien. In seiner Kategorientafel hat er nur das bekommen, was er selber darin eingetragen hat.
4. Seine Berufung auf die Autorität der Logik bei der Begründung seiner Systematisierung der Einteilungen und ihrer Vollständigkeit sowohl in Falle der Urteile als auch der Kategorien erwies sich als unzulänglich.
Das alles spricht davon, dass Kant damit begonnen hat, eine andere — transzendentale — Logik zu entwickeln, deren Regeln von denen der allgemeinen Logik abweichen und vielleicht sogar mit ihr unvereinbar sind. Seine Berufung auf die allgemeine Logik scheint ein Tribut der Tradition gewesen zu sein. Die Perspektiven der Entwicklung dieser anderen Logik scheinen seine Nachfolger im Rahmen des deutschen Idealismus besser verstanden zu haben. Jedenfalls hat sein Hauptvertreter — Hegel — dieses Prinzip der Triade (der Trichotomie) seinem System zugrunde gelegt, welches von Kant formuliert worden war und auf welchem er seine Urteilstafel aufgebaut hatte und welches ihn zur Verletzung der simplen Regeln der allgemeinen Logik verleitete. Man kann allerdings vermuten, dass Kant die Hegelsche Einschränkung des Bereiches der allgemeinen Logik nicht akzeptiert hätte, so wie er einst die nachfolgende Entwicklung seiner Philosophie durch Fichte abgelehnt hat.
Die allgemeine Schlussfolgerung in Bezug auf die Rationalität der Philosophie Kants lautet ungefähr wie folgt: Kant ist es nicht gelungen, seine Theorie der Vernunft auf dem festen Fundament der allgemeinen reinen Logik aufzubauen. Indem er seine Theorie entwickelte meinte er vielleicht unbewusst einen anderen Begriff der Rationalität, nämlich irgendeine neue, transzendentale Rationalität, die sich nicht verpflichtete, die Regeln der Logik zu befolgen.
Literaturverzeichnis
1. Tonelli G. Die Voraussetzungen zur Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jahrhunderts // Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag. Hrsg. Von F. Kaulbach und J. Ritter. Berlin: Walter de Gryuter, 1966. S. 134—158.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Bryusсhinkin, Vladimir. Logik und Rationalität in der Philosophie Kants// Klassische Vernunft und Herausforderungen der modernen Zivilisation. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2010. S. 7 – 19.