Vjatscheslav Dashitshev. Traktat von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“ und internationale Beziehungen der Neuzeit
Am 22. April feiern wir den Geburtstag des großen Sohnes des deutschen Volkes Immanuel Kant — eines der Begründer des modernen Völkerrechts. Sein theoretischer Nachlass, insbesondere der Traktat „Zum ewigen Frieden. Ein Manifest für die Zukunft der Menschheit“, kann und muss auch heutzutage als die unabdingbare Norm des Verhaltens der Staaten, vor allem der Großmächte, in der Weltarena dienen.
Leider machten sich europäische Politiker seine Lehre nach seinem Tod nicht zu eigen. Statt des ewigen Friedens kam es in Europa und auf anderen Kontinenten ununterbrochen zu Kriegen. Die europäischen Völker erlebten im 20. Jahrhundert den Schrecken zweier „heißer” und eines „kalten“ Weltkrieges. Das Perpetuum Mobile von Kriegen und Konflikten dreht sich ständig auch im 21. Jahrhundert.
In seinem philosophischen Traktat „Zum ewigen Frieden“ formulierte Kant die wichtigsten „Verbotsgesetze”, von denen sich die Staatsmänner in ihrer Politik auf internationaler Ebene unbedingt leiten lassen sollten, um den Frieden nicht zu gefährden und den Ausbruch von Kriegen verhindern zu können. Wie lauten diese Gesetze?
Kein Staat darf sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates gewaltsam einmischen (Kant, 1795, S. 346).
Diese These von Kant begründete das fundamentale Prinzip des Völkerrechts — die Souveränität jedes Staates, deren Verletzung oder Zerstörung der Anfang allen Übels für die internationale Gemeinschaft ist und auch zur Entfesselung von internationalen Konflikten führt. Die willkürliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, so Kant, kann „nur die Anarchie“ in internationalen Beziehungen heraufbeschwören. Er war der Meinung, zwischen den Staaten sei der Krieg zum Zwecke der Bestrafung (bellum punitivum) unzulässig. Es wäre verhängnisvoll, die Staaten nach dem Prinzip „Suzerän (Lehnsherr) — Vasall“ zu gliedern.
Die Politiker in Washington betrachten „Bestrafungskriege“ (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) als eine normale und notwendige Praxis. Sie schrecken nicht davor zurück, das eigene Volk und die Weltöffentlichkeit durch falsche Vorwände und primitive Argumente irrezuführen, um diese Kriege zu rechtfertigen und entfesseln zu können. Es genügt hier zu erwähnen, mit welchen skandalösen propagandistischen Mitteln die Bush-Administration beim Überfall auf den Irak aufwartete. Zuerst wurde die Herstellung von Atomwaffen im Irak vorgetäuscht, dann die Notwendigkeit, den Diktator Saddam Hussein zu stürzen; darauf wurde ein neues Argument erfunden — das irakische Volk im Sinne der Demokratie umzuerziehen.
Das Problem der Souveränität eines Staates sieht heute, im Zeitalter der schnell voranschreitenden Internationalisierung, natürlich anders aus als in der Vergangenheit. Unter den Verhältnissen der regionalen oder kontinentalen Integration, wie das in der EU der Fall ist, können einzelne Staaten einen Teil ihrer Staatshoheit an die gemeinsame internationale Organisation freiwillig delegieren, wenn das ihren sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessen entspricht. Das steht nicht im Widerspruch zu dem von Kant formulierten Prinzip der Nichteinmischung. Er hielt die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates für unzulässig. Das schließt aber die Einwirkung der internationalen Gemeinschaft auf die Führung eines Staates nicht aus, wenn zum Beispiel diese Führung durch ihre Handlungen den Frieden und die Stabilität in einer Region oder auf globaler Ebene gefährdet.
Das Problem der Souveränität muss auch in einem neuen Lichte betrachtet werden im Hinblick auf die Spannungen und Gegensätze in einem Vielvölkerstaat, die durch das Streben eines Volkes innerhalb dieser Völkergemeinschaft nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung hervorgerufen werden. Es muss alles getan werden, um dieses Problem friedlich und im Einvernehmen der Beteiligten am Konflikt lösen zu können. Ein gutes Beispiel dafür gibt die friedliche „Ehescheidung“ zwischen der Tschechei und der Slowakei. Kant hat hervorgehoben, dass die Einmischung von außen auch in einem solchen Fall unzulässig sei. Sie kann schwerwiegende Folgen für die internationale Gemeinschaft haben. Als Beispiel können hier die bürgerkriegähnliche Ereignisse in Syrien dienen, in die sich Außenkräfte einmischen und den Frieden im Nahen Osten und anliegenden Regionen gefährden.
„Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können“ (Kant, 1795, S. 344).
Dieses Prinzip hat Kant so erklärt: der Staat sei eine Gemeinschaft von Bürgern, über deren Schicksal dieser Staat selbst und niemand anderes entscheiden darf, Seine Einverleibung in einen anderen Staat würde seine Liquidierung als moralisches Subjekt und seine Umwandlung in ein bloßes Objekt bedeuten. Anders gesagt, verhängte Kant das Verbot für Eroberungskriege, die Herrschaft eines Volkes über das andere.
Für unsere Gegenwart bedeutet das Unzulässigkeit der hegemonialen Politik, in welcher Form sie sich auch immer offenbaren mag — in einer imperialistischen, messianisch-ideologischen, nationalistischen, finanz-oligarchischen, religiösen Art usw. Die grobe Verletzung dieses „Verbotsgesetzes” von Kant führte zu zwei Weltkriegen. Ihnen lag immer die Imperialpolitik zugrunde. Wenn sie nicht gestoppt wird, kann es wiederum zu einem großen Unheil für die Menschheit führen.
In vergangenen Epochen konnte die Eroberung von Staaten, auch durch Großmächte, nur unter Anwendung der Militärgewalt und durch die Besetzung des Territoriums der Opfer erzielt werden. Im nuklearen Zeitalter änderte sich dieses Verfahren. Nach 1945 erfolgte die Herstellung einer fremden Hoheit über europäische Staaten vor allem durch „stille Eroberung”, eine „Strategie der indirekten Einwirkung“ (Liddel Hart). In den Vordergrund rückten die ideologisch-psychologischen („re-education“), wirtschaftlichen, finanziellen Mittel und die Beeinflussung der Personalpolitik (die Schaffung einer verzweigten amerikanischen Lobby). Die günstigen Bedingungen für die Anwendung dieser Mittel hat der Kalte Krieg durch den Antagonismus der beiden hegemonialen Mächte — der USA und der Sowjetunion — geschaffen. Nach seinem Ende ist Deutschland aber bis heute ein Staat geblieben, dessen Befindlichkeit und Politik entscheidend durch die USA beeinflusst werden. Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt schrieb in diesem Zusammenhang:
Es gibt für die Mehrheit der kontinental-europäischen Nationen in absehbarer Zukunft weder einen strategischen noch einen moralischen Grund, sich einem denkbar gewordenen amerikanischen Imperialismus willig zu unterordnen… Wir dürfen nicht zu willfährigen Ja-Sagern degenerieren. Auch wenn die USA in den nächsten Jahrzehnten weitaus handlungsfähiger sein werden als die Europäische Union, auch wenn die Hegemonie Amerikas für längere Zukunft Bestand haben wird, müssen die europäischen Nationen gleichwohl ihre Würde bewahren. Die Würde beruht auf dem Festhalten an unserer Verantwortung vor dem eigenem Gewissen (Schmidt, 2004, S. 238—239).
Besonders erfolgreich erwies sich die Anwendung der Strategie der indirekten Einwirkung seitens der USA in der Jelzin-Ära gegenüber Russland. Es gelang Washington, die amerikanische Lobby in russischen Führungsgremien zu etablieren. Sie lenkte die Entwicklung Russlands in falsche Bahnen, was eine nie da gewesene Schwächung und die totale Verarmung des Landes zur Folge hatte.
Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen (Kant, 1795, S. 346).
Wie Kant hier richtig voraussah, kann ein „Vernichtungskrieg» nur „zum ewigen Frieden auf dem großen Friedhof des menschlichen Geschlechts“ führen. Das bezieht sich insbesondere auf die atomaren Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki. Das Menetekel dieser beiden Städte hängt seitdem immer über der Menschheit. Man kann auch die schonungslose Zerstörung der Industrie, der Infrastruktur, der Raffinerien, Fernseh- und Radiosender in Jugoslawien durch die Luftwaffe der USA bzw. der NATO sowie die durch die Angriffe auch verursachten großen Verluste in der Zivilbevölkerung erwähnen. Sie halten auf lange Jahre unfreundliche Gefühle der Serben zu Amerikanern wach. Auch der Irak legt Zeugnis von diesem Phänomen ab.
Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören (Kant, 1795, S. 345).
Kant ging mit dieser Erkenntnis sozusagen als Stammvater der Abrüstungspolitik in die Geschichte ein. Man kann seine Mahnung heute unmittelbar an das Weiße Haus richten. Die Militärausgaben der USA betragen derzeit mehr als 600 Milliarden Dollar im Jahr, das entspricht etwa 50 % der Weltmilitärausgaben, und liegen damit weit höher als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges (SIPRI 2011). Die Hochrüstung ist die Basis der amerikanischen Herrschaftspolitik. Zum Vergleich: Die Militärausgaben Russlands betrugen umgerechnet 9,35 Milliarden Dollar (2002), 11,6 Milliarden (2003) und 14,93 Milliarden US-Dollar (2004). Die regierenden Eliten der USA treten also als die Antriebskräfte der Aufrüstung in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges auf.
Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden (Kant, 1795, S. 343).
So Kants weitere Weisheit. Wir wissen, welche verhängnisvolle Rolle der Versailler Friedensvertrag in der Geschichte Europas spielte. Er bahnte den Weg zum Zweiten Weltkrieg. Der „Friedensvertrag“ von Potsdam 1945 erwies sich als noch schlimmer. Er spaltete Europa auf in zwei feindselige Lager und führte zum Kalten Krieg. Nur die Pariser Charta, die von allen europäischen Staaten, den USA und Kanada im November 1990 unterschrieben wurde und unter den Kalten Krieg einen Schlussstrich zog, konnte eine Friedensordnung in Europa ohne Trennungslinien, ohne Blockstrukturen, ohne fremde Dominanz schaffen. Sie hatte einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter und enthielt vorzügliche Prinzipien (Überwindung der Spaltung Europas, gleiche Sicherheit für alle europäischen Staaten, Abrüstung, Förderung der Demokratie in Europa, kein Staat darf sich über das Völkerrecht stellen, von Europa darf kein Krieg mehr ausgehen usw.) Aber diese Prinzipien, mit kantischem Geist angefüllt, waren mit der Herrschaftspolitik der USA vollkommen unvereinbar. Deswegen fanden sie keine Anwendung und gerieten bald nach der Unterzeichnung der Charta in Vergessenheit.
Die Bedeutung der aufgezählten Grundsätze Immanuel Kants für die gegenwärtigen internationalen Beziehungen ist offensichtlich. Im Mittelpunkt seiner politischen Philosophie steht als wichtigste These: In den internationalen Beziehungen soll nicht die Gewalt, sondern das Recht herrschen. Die Einhaltung der Kantichen Gesetze setzt hohe intellektuelle und moralische Eigenschaften bei den Staatsmännern voraus. Die Ambitionen Herrschsucht und Habgier — so Kant — führen zu Kriegen (Kant, 1784, S. 21).
Nach Kant kann der Frieden aufrechterhalten werden, wenn Politik und Moral untrennbar verbunden sind. Der „nackte Pragmatismus, ausgehend von Eigensucht“ sei mit Friedenspolitik unvereinbar. Moral und Recht stellt Kant auf die gleiche Stufe. Sie sind gleichwertig. Moralisch, sittlich und für den Frieden dienlich sind nur solche politischen Handlungen, die auf dem Recht, auf dem Gesetz beruhen. Die Abkehr von der Moral für egoistische Interessen, die Trennung der Politik von der Moral, sind für die Völkergemeinschaft verhängnisvoll.
Die internationalen Beziehungen können sich segensreich und wohltuend nicht entwickeln, wenn sie vom Stand der Menschenrechte und Freiheiten in dem einen oder anderen Staat abhängig gemacht werden. Es wäre sonst ein falscher und gefährlicher Weg der Entwicklung der internationalen Gemeinschaft.
Der Entstehung von Kriegen liegt vor allem die Herrschaftspolitik zugrunde. Das folgert auch aus der Lehre von Kant. Nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben als einzige Supermacht die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie setzten sich zum Ziel, ihre Alleinherrschaft in der Welt zu errichten (eine unipolare Weltordnung). Die damit verbundenen Absichten wurden im „Projekt für das Neue Amerikanische Jahrhundert“ (Project for the New American Century — PNAC) sehr anschaulich dargelegt. Es wurde Mitte 1997 von Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und anderen amerikanischen Anhängern des Sozialdarwinismus in den internationalen Beziehungen ausgearbeitet (Abrams, 1997). Die Leitlinien dieses Projektes und die ihm zugrunde liegende „neue globale Moral” der USA bildeten die Basis der Politik der Bush-Administration. Zusammenfassend sehen sie wie folgt aus:
— Die internationalen Beziehungen sind Machtbeziehungen; das Recht spielt darin nur eine untergeordnete Rolle.
— Die Macht ist das bestimmende Element, und das Recht legitimiert den jeweils herrschenden Zustand.
— Die Vereinigten Staaten sind die dominierende Macht in der Weltordnung, die von allen anerkannt werden muss.
— Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.
— Die USA sind gegenwärtig in der Lage, ihre Sichtweisen, Interessen und Werte der Menschheit aufzuzwingen.
— Die Vereinigten Staaten müssen ihre Hegemonie in der Welt stärken.
— Die Menschenrechte stehen über dem Prinzip der Souveränität von Staaten und Völkern.
Statt das demokratische Prinzip „Einheit in Vielfalt“ einzuhalten, das als Basis einer friedlichen und stabilen Weltordnung dienen muss, statt der Achtung der Souveränität, der Eigenarten der nationalen Entwicklung jedes Volkes, seiner Kultur und seiner Identität hat die amerikanische Administration den Grundsatz der Gleichschaltung der Völker, die Priorität und die Allgemeingültigkeit der amerikanischen Werte für die ganze Welt ihrer Politik zugrunde gelegt. Etwas Gleiches haben wir schon erlebt, als Stalin und seine Nachfolger versuchten, die kommunistischen Werte der ganzen Welt aufzuzwingen. Die Methoden der Durchsetzung dieser „globalen“ Werte waren auf beiden Seiten ziemlich ähnlich. Im Mittelpunkt stand die Gewalt, die Politik der Stärke.
Die Prinzipien des „Projekts für das Neue Amerikanische Jahrhundert“ standen von Anfang an im krassen Gegensatz zu der Lehre von Kant, zu den Forderungen nach Demokratisierung der internationalen Beziehungen. Es ist erstaunlich, wie die regierende amerikanische Elite, die die USA als einen Hort der Demokratie ausgibt, sich auf der Welt wie ein autoritärer Alleinherrscher verhält. Die Träger hegemonialer Politik waren zu allen Zeiten die schlimmsten Friedensstörer und die destruktivste Kraft in den internationalen Beziehungen.
Die „neue globale Moral“ ist dazu berufen, das Recht der USA zu legitimieren, „präventive humanitäre (?!) Kriege“ zu führen, wo und wann es ihr genehm ist. Die Doktrin der „beschränkten Souveränität“ von Breschnjew ist von der amerikanischen Doktrin „der unbegrenzten Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ der souveränen Staaten abgelöst worden. Das bedeutet den vollen Bruch des Völkerrechts seitens der USA. An seine Stelle trat das Recht des Stärkeren. Die Motive dieser „Erneuerung“ des Völkerrechts sind primitiv. Man solle mit Gewalt die „Schurkenstaaten“ bekämpfen, in denen individuelle Freiheiten und Menschenrechte verletzt werden, und diese Normen von außen einführen.
Die „neue globale Moral“ der USA steht im krassen Gegensatz zum Nachlass von Immanuel Kant. Die Adepten der amerikanischen Hegemonialpolitik behaupten, sein Konzept in Fragen „Krieg und Frieden“ sei veraltet und habe im Hinblick auf die Gegenwart seine Bedeutung verloren. Nichts wäre gefährlicher, als diese falsche These in de Außenpolitik einzuhalten.
Es ist interessant, zu betrachten, welchen Niederschlag die Grundsätze des Traktats „Zum ewigen Frieden“ bei der Umwandelung der sowjetischen Außenpolitik während der sozialistischen Reformation — Perestroika — fanden. Seit Stalins Zeiten war sie durchdrungen vom Geist eines ideologischen Messianismus. Darauf basierte die Expansion der Sowjetunion nach außen mit dem Ziel, anderen Ländern die kommunistische Ordnung nach sowjetischem Vorbild und folglich die Vorherrschaft der Sowjetunion als Träger dieser Ordnung mit Gewalt aufzuzwingen. Oft hat das mißgestaltete Formen angenommen. Zum Beispiel, das Unternehmen der Breschnjew-Führung, das afghanische Volk durch den Krieg zur kommunistischen Lehre zu bekehren. Damals habe ich erfolglos versucht, in einer an den Kreml gerichteten Denkschrift zu verdeutlichen, der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan sei ein aussichtloses Abenteuer, das mit einer politischen und militärischen Blamage enden werde. Das war ein Ruf in der Wüste.
Bis zum Beginn der Gorbatschow-Reformen konnte die sowjetische Führung nicht verstehen, dass die Praxis der Herrschaft (gleichgültig von wem sie ausgeht, von einem sozialistischen oder einem kapitalistischen Land) dem ewigen Streben des Menschen, des Volkes oder der politischen Macht nach Freiheit und Unabhängigkeit widerspricht und unabwendbar negative Reaktionen und Widerstand hervorruft. Im System der internationalen Beziehungen führt jede derartige Praxis zu internationaler Spannung, zu Konflikten und Kriegen. Sie verhindert die Entwicklung harmonischer, für alle günstiger Beziehungen zwischen den Ländern. Die Kremlführer von Stalin bis Tschernenko waren davon überzeugt, dass das Modell „Herr — treuer Untertan“ am besten für die Beziehungen der Sowjetunion mit sozialistischen Ländern und für die Konsolidierung der kommunistisch orientierten Kräfte im „Klassenkampf gegen den Kapitalismus“ geeignet wäre. In diesem Sinn verband sich das sowjetische Messias-Bewusstsein mit den Forderungen der UdSSR nach Führung in der weltweiten sozialistischen Bewegung und mit den sowjetischen imperialen Ambitionen.
Abgesehen davon, dass eine solche Politik zur Ost-West-Konfrontation und zum „Kalten Krieg“ führte, säte sie Zwietracht zwischen Ländern des sozialistischen Lagers. Und sie hatte noch einen Nachteil. Monopolisierung und Zentralisierung der Macht erwürgen immer die Entwicklung und Vielfalt, indem sie die Erkennung und Förderung von Neuerungen und die Herausbildung lebensfähiger Gesellschaftsformen verunmöglichen. Das Bemühen, den Sozialismus im Rahmen des sowjetischen Modells zu halten, blockierte eine Modernisierung. Als ein Beispiel dafür kann man die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ — der Reformbewegung in der Tschechoslowakei durch militärische Macht anführen, die tragische Folgen für den Sozialismus und auch für die Sowjetunion haben sollte.
So beging die sowjetische Außenpolitik eine dreifache Sünde:
a) sie provozierte den West-Ost-Konflikt, der oft am Rande eines nuklearen Krieges war;
b) sie gab Anlass zu Konflikten innerhalb des sozialistischen Lagers;
c) sie blockierte die Reformierung der sozialistischen Gesellschaft im Sinne ihrer Demokratisierung und der Steigerung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Effizienz.
Der schädliche Charakter eben dieser „Triade“ der sowjetischen Außenpolitik wurde für die Kremlführung leider viel zu spät, erst mit Beginn der Perestrojka, offensichtlich. Damals schob sich die Aufgabe in den Vordergrund, die Sowjetunion aus der unnötigen und gefährlichen Konfrontation mit dem Westen herauszuziehen. Diese Konfrontation verschlang die besten Kräfte des Landes und verunmöglichte die Lösung weit wichtigerer Aufgaben der inneren Entwicklung, insbesondere die radikale Steigerung des Lebensstandards der sowjetischen Bürger. Zugleich hielt sie in der westlichen Gesellschaft die Vorstellung von der Sowjetunion als einer gefährlichen imperialistischen Macht aufrecht. Tatsächlich ging es darum, richtige Wege zu finden, um den „Kalten Krieg“ zu beenden. Diese historische Aufgabe konnte nur durch radikale Regelung der ideologischen Prinzipien der damaligen sowjetischen Außenpolitik gelöst werden. Allem voran durch.
Abwendung vom „Klassenkampf“ in der internationalen Arena, von der Messiasrolle der Sowjetunion als „führende Kraft“ der „kommunistischen und Volksbefreiungsbewegung” und von dem Ziel „Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt“1.
Nur so konnten Bedingungen zum Ausgleich der politischen Interessen mit dem Westen geschaffen werden, um die Ost-West-Konfrontation zu entschärfen oder ganz zu beenden, um die Voraussetzungen für einen realen Prozess zur Abrüstung, zur Beseitigung der Gefahr eines Atomkrieges und Überwindung des „Kalten Krieges“ zu entwickeln.
In der sowjetischen Außenpolitik war völlig außer Acht gelassen worden, dass es im System der internationalen Beziehungen die „Gesetzmäßigkeit der negativen Rückwirkung“ gibt: Wenn eine Großmacht danach strebt, unter diesem oder jenem Vorwand ihre hegemoniale Einflusssphäre zu errichten und zu erweitern, unterwerfen sich schwache Staaten freiwillig oder unfreiwillig ihrer Herrschaft. Diese wird noch stärker und unterwirft stärkere Staaten mit dem Bemühen, eine bestimmte Weltordnung unter ihrer Hegemonie zu schaffen. Die Ausweitung ihrer Herrschaft beginnt, die Interessen anderer Staaten zu bedrohen, insbesondere von Großmächten. Nun kommt es zur negativen Rückwirkung. Staaten vereinigen sich gegen diese Herrschaft in einer „Antikoalition“, die mit der Zeit unaufhaltsam so stark wird, dass die Hegemonialmacht das militärische und wirtschaftliche Gegeneinander nicht durchhalten kann. Jeder Hegemonismus und jeder Expansionismus unter welcher ideologischen Maske er auch auftritt, trägt in sich den Keim des eigenen Untergangs. Das lehrt die Erfahrung von zwei „heißen“ Weltkriegen und einem „kalten“.
Außerdem verstießen sowjetische Führer grob gegen grundlegende Prinzipien der Außenpolitik, wie sie schon Clausewitz formulierte: Außenpolitische Ziele müssen genau den verfügbaren Materialressourcen entsprechen, um sie zu erreichen. War die Sowjetunion etwa in der Lage, die Konfrontation mit allen Großmächten des Westens durchzustehen? Dies war eine gefährliche Illusion. Der Kalte Krieg erwies sich als äußerst nützlich für regierende Kreise der Vereinigten Staaten. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, gestattete ihnen die sowjetische Führung, großen politischen und wirtschaftlichen Nutzen aus der Konfrontation zu ziehen und ihre Herrschaft in den Ländern Westeuropas zu verstärken. Der bekannte italienische Journalist, Politiker und Russlandkenner Giulietto Chiesa schrieb: „Die Sowjetunion hat den Rüstungswettlauf im Kampf mit den Vereinigten Staaten um die militärische Vorherrschaft verloren. Den Rhythmus dieses Wettlaufs hatten die Vereinigten Staaten lange vor Erscheinen von Ronald Reagan vorgegeben Die Russen begingen einen tödlichen Fehler, als sie in diesen Wettlauf einstiegen. Sie haben viel zu spät erkannt, dass sie ihn verloren hatten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt stürzte das System zusammen“. Tatsächlich hat die Konfrontation mit dem Westen mit steigender Intensität die Kräfte der Sowjetunion ausgesaugt.
Es war unerläßlich, einen Ausweg aus dieser gefährlichen Lage zu finden. Eben diese Aufgabe hat ab 1985 die neue sowjetische Regierung unter Führung von Michail Gorbatschow auf sich genommen. In den Jahren der Perestrojka wurden in der sowjetischen Außenpolitik die Grundsätze einer neuen außenpolitischen Denkweise und die neuen Prinzipien der Außenpolitik ausgearbeitet2.
- Abkehr von der messianischen Herrschaftspolitik und deren Verurteilung;
- Einstellung der Ost-West-Kofrontation und des Rüstungswettlaufs;
- Einhaltung des Prinzips: „Nicht die Macht, sondern das Recht muß in den internationalen Beziehungen herrschen“;
- Anerkennung des Rechts und der Freiheit jedes Volkes, seinen eigenen Weg der Entwicklung zu wählen;
- Tiefe Demokratisierung und Humanisierung der internationalen Beziehungen;
- Herstellung eines untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Politik und der Moral;
- Schaffung eines gesamteuropäischen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Raumes (die Idee des „Gemeinsamen europäischen Hauses“)
Die Durchsetzung dieser Prinzipien in der sowjetischen Außenpolitik in den Jahren 1986—1990 ermöglichte es, die Bedingungen für die Beendigung des Kalten Krieges zu schaffen und den gesamteuropäischen Konsens zu finden, verkörpert in der Pariser Charta, die von allen europäischen Ländern, USA und Kanada im November 1990 unterschrieben wurde. Dieses historische Dokument stand im Einklang mit Grundsätzen des Traktats von Kant „Zum ewigen Frieden“. Es schien, als ob eine neue Epoche des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa angebrochen wäre. Aber ein Jahr verging, und der konfrontative Geist kehrte wieder nach Europa zurück. Nach dem Zerfall der SU blieben die USA die einzige Supermacht. Ihre Elite konnte der Versuchung nicht widerstehen, den europäischen Friedenskonsens zu brechen und ihre Herrschaftspolitik unter neuen günstigeren Bedingungen fortzusetzen. So bleibt Europa gespalten, militarisiert, von einer außerkontinentalen, herrschsüchtigen Macht beherrscht. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges wurde nicht gebannt. Heute kommt es darauf an, die Prinzipien der Friedenslehre von Kant zum Alltag des europäischen Lebens zu machen.
¹ Die Notwedigkeit eines gründlichen Wandels in der sowjetischen Außenpolitik begründete ich in einer Denkschrift für den Generalsekrätär der KPdSU Juri Andropow am 10. Januar 1983 (Andropow, 1997).
² Der mühsame Prozess der Umwandelung der sowjetischen Außenpolitik habe ich in meinem Buch beschrieben (Daschitschew, 2002). Darin sind viele meine Denkschriften für Breschnew, Gromyko, Gorbatschow, Schewardnadse u. a. veröffentlicht. Das Vorwort zum Buch hat Michail Gorbatschow und den Prolog Hans-Dietrich Genscher geschrieben.
Bibliographie
Abrams E. (et al.), 1997: Project for the New American Century. Statement of Principles. URL: www.newamericancentury.org/ statementofprinciples.htm (Zugriff am 15.02.2012)
Andropow Ju. V., 1997: Nicht durchhaltbare Mission der sowjetischen Außenpolitik, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung. 1997.
Daschitschew W. I., 2002: Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik. Hamburg.
Кant I., 1784: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant I. Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe).
Bd. VIII.
Кant I., 1795: Zum ewigen Frieden, in: Kant I. Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Bd. VIII.
Schmidt H., 2004: Die Mächte der der Zukunft. Gewinner und Verlieren in der Welt von morgen. München.
SIPRI 2011: The 15 major spender countries in 2011 (table), in: SIPRI Military Expenditure Database. URL: www.sipri.org /research/ armaments/milex/resultoutput/milex_15 (Zugriff am 15.02.2012).
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Dashitshev, V. Traktat von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“ und internationale Beziehungen der Neuzeit // Kant’s Project of Perpetual Peace in the Context of Contemporary Politics : proceedings of international seminar/ ed. by A. Zilber, A. Salikov. — Kaliningrad : IKBFU Press, 2013. S. 57 – 70.