N.W. Motroschilowa. Paradoxien der Freiheit in der Philosophie Kants: Ihre aktuelle Bedeutung
In den zwei Jahrhunderten, die seit dem Todestage Kants verflossen sind, haben sich im Bereich des Menschengeistes unzählige wichtige Begebenheiten ereignet. Schaut man in dieser Geschichte nach beständigen intellektuellen Tendenzen um, so ist als eine dieser Tendenzen das stabile und immer wachsende Interesse zur Philosophie des großen Kant anzuerkennen. Suchen wir ferner nach der generellsten und bedeutsamsten Antwort auf die Frage nach den Gründen dieser unvergänglichen Wirkungskraft der Kantschen Philosophie, so werden wir am ehesten – mit Hegel und vielen anderen hervorragenden Denkern verschiedener Länder und Nationen – sagen müssen: das Wesen der Sache besteht darin, daß das Prinzip der Freiheit ein Fundamentalgrundsatz (eins der „Cardinalprinzipien“, wie es bei Hegel heißt) der Lehre Kants darstellt. Das Freiheitsprinzip durchdringt nun in der Tat Kants ganze Philosophie. Daher kommt jene bemerkenswerte Konsonanz zwischen der Lehre Kants einerseits und ganzen Jahrhunderten in der Geschichte der Menschheit, deren Tendenz in einem schweren und widerspruchsvollen Kampf der Einzelnen, der Länder, der Weltteile, der gesamten Menschheit um die Freiheit und die Freiheiten in den unterschiedlichsten Bedeutungen des Worts, – vor allem aber um die Anerkennung und Wahrung der Rechte und Freiheiten eines jeden Einzelnen, – gesehen werden kann.
Wenn wir aber das Ganze nur auf eine Verherrlichung und Verteidigung des Freiheitsprinzips bei dem großen Denker zurückführen wollten, dann wäre, wie ich befürchte, unbegriffen, worin denn der besondere Beitrag Kants zum Verständnis der Freiheit und zur Freiheitssache selbst eigentlich besteht. Fragen wir uns in der Tat: wer redet heute nicht von Freiheit? Welche politische Kräfte, Parteien, Gruppierungen, Leader führen nicht das Wort „Freiheit“ in den Slogantiteln ihrer Programme und ihrer Reden? Und dennoch bleibt die harte, die entscheidende Frage: ist denn das Freiheitsprinzip nicht dadurch kompromittiert, daß (zumindest) in den letzten zwei Jahrhunderten Blutsströme um der Freiheit wilen vergossen und Millionen dem Freiheitskampf geopfert sind? Wenn sich Verdienste in der Freiheitssache mit der Anzahl an klangvollen Wörtern und Aufrufen messen konnten, wenn es nur darum ginge, die Opfern um der Freiheit willen, um die Freiheit um jeden Preis, zu rechtfertigen, dann könnte wohl Kant und andere Theoretiker im „Fernwettkampf“ mit den eifrigsten Freiheitsgerolden, an denen es in die letzten zwei Dezennien nicht ermangelte, keineswegs gewinnen.
Die Hauptthese meines Vortrags mag jemandem unerwartet erscheinen. Ich wage aber den folgenden Grundgedanken zu behaupten und zu verteidigen: die Größe kants als eines Denkers besteht nicht nur, ja nicht so sehr in der bloßen Verkündigung des Freiheitsprinzips, sondern vielmehr in der theoretischen und gelichzeitig praktisch verwertbaren, auch heute noch aktuellen Behandlung jener Schwierigkeiten, Antinomien, d.h. jener unentrinnbaren Widersprüche und Paradoxien, mit denen sowohl die Verteidgung, als auch, und das ganz besonders, die Verwirklichung des Freiheitsprinzips jederzeit und auf alle Zeiten verbunden sind.
Die grundlegende Freiheitsparadoxie in der Philosophie Kants
Die Hauptparadoxie des kantischen Freiheitskonzeptes, – jene Paradoxie, die nicht nur eine theoretische Ausdrucksform, sondern auch lebenspraktische Folgen hat, – sehe ich in folgendem Sachverhalt.
Einerseits, solange es sich um theoretische Philosophie handelt, sammelt Kant nicht einfach an, sondern türmt geradezu die großen Schwierigkeiten aufeinander, welche jedem zuteil werden, der den Vorrang des Freiheitsprinzips gegenüber dem Determinismusprinzip, also gegenüber der notwendigen Bedingtheit aller Art, von den Naturgesetzen bis hin zu Realitäten des gesellschaftlichen Daseins und den Umständen eines jeden Einzellebens, auf eine rationale und ausschließlich erkenntnismäßige Weise (also u.a. für die wissenschaftliche Erkenntnis gültig) rechtfertigen und verteidigen will. Dazu kommt noch, daß, wenn auch das Freiheitsthema für die Kant’sche Begriffsanalyse bestimmend ist, so geschieht dies sozusagen unterschwellig und wird erst durch die Endergebnis deutlich. Der Form nach wird jedoch das Freiheitsproblem nur im Zusammenhang einer einzigen Antinomie (und zwar der dritten Antinomie) und ihrer nachfolgenden Auslegungen behandelt. Und zwar ist auch diese einzige eine kosmologische Antinomie, worin die Freiheit keineswegs an sich selbst, sondern in einer komplexen Verflechtung-Gegensetzung zum Grundsatz der durchgängigenbedingtheit allen Geschehens durch die Ketten von Naturusachen vorkommt.
Noch eine bedeutende Schwierigkeit: die Antinomien, nicht von ungefähr kosmologisch genannt, schweben gleichsam in der „Kritik der reinen Vernunft“ über der gesamten Wirklichkeit von menschlichen Handlungen und beziehen sich sozusagen auf den kosmische Gleichgewicht, das zumal rein abstrakt analysiert wird. In der dritten Antinomie geht es, ganz kurz formuliert, darum, daß man innerhalb dieses Gleichgewichts des unendlichen Weltalls eine, wie die Thesis der Antinomie sagt, „absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe der Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist“ [1, B474], anzunehmen darf und soll. Oder ist hingegen zu behaupten, wie die Antithesis derselben Antinomie es ausdrückt, daß „keine Freiheit ist“ und daß „alles in der Welt lediglich nach Gesetzen der Natur“ geschieht [1, B473].
Bei genauerem Zusehen erweist es sich, daß diese „Freiheit“, in wahrhaft kosmischem Maßtab genommen, nicht nur den Menschen, sondern vor allem Gott, mit dessen absoluter Spontaneität (und erst dadurch auch den Menschen), und die abstrakt-metaphysisch zu setzende Möglichkeit einer „Kausalität durch Freiheit“ gegenüber der „Naturkausalität“ angeht. Wird sich also jemand beschweren wollen, daß der Freiheit in der „Kritik der reinen Vernunft“ eine bescheidene und auch keineswegs selbständige Stelle zugewiesen ist, daß diese hier abstrakt gedacht wird, so wird er auf seine Art recht haben.
Das alles ist aber nur eine Seite der allgemeinen Paradoxie der Philosophie Kants.
Die andere Seite derselben besteht darin, daß Kant im Bereich der praktischen Vernunft, d.h. innerhalb der sittlichen und rechtlichen Sphären die Freiheit zum kardinalen Ausgangspostulat macht. Denn ohne einen fundamentalen Stellenwert der Freiheit kann er sich das Handeln der Einzelnen, ihre Zusammenwirkung gar nicht denken. Und eine Philosophie der praktischen Vernunft ist für ihn ohne eines Ausgangspostulats und einer Analyse der Freiheit schlechthin undenkbar.
Jemand kann wohl fragen: wie bezieht sich diese philosophische Vernünftelei zum wirklichen Leben der Menschen, zu tatsächlichen Geschichtsprozessen? Darauf antworte ich: direkt und unmittelbar. Die oben angedeutete metaphysischßphilosophische Paradoxie, die nur Kants Lehre zu betreffen scheint, skizziert in der Tat eine Paradoxie des wirklichen Tuns und Denkens der Menschen, eine Paradoxie der Existenz, der Entwicklung des Menschens wie der Menschheit. Und diese Paradoxie besteht in folgendem.
Der Mensch ist ein Wesen, das zwei Welten zugleich angehört, eine merkwürdige und auf seine Art paradoxale Erscheinung. Einerseits ist er ein Glied in der Kette der Naturentwicklung, ist daher auch den Gesetzen und Grundsätzen der unanfechtbaren „Kausalität durch Natur“ unterworfen. Von diesem Standpunkt aus gesehen drückt die Antithesis der dritten Antinomie, da sie von der Allmacht und Unüberwindlichkeit der Naturgesetze, und damit auch ihrer Macht über den Menschen redet, eine naturwissenschaftliche und philosophische Wahrheit aus. Oder wenn man es mit Kant selbst, in seiner eigenen Sprache formuliert: „der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und in so fern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen stehen muß“ [1, B574]. Der Kerninhalt der wichtigsten praktischen Konsequenz der kosmologischen Position der Antithesis besteht in folgendem: der Mensch darf und soll nicht hoffen, daß es ihm (etwa durch den Fortschritt der Erkenntnis, der Wissenschaft und Technik) gelingen kann, die harte Naturnotwendigkeit jemals aufzuheben oder auch nur unbestraft zu ignorieren. (Wie viele Neuerungen wir z.B. vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt auch immer erwarten, wie weitgehend wir dadurch auch immer das Einzelleben zu überwinden imstande werden, so sind doch, o weh! – der Tod des Menschenkörpers und seine Krankheitsanfälligkeit unüberwindbar). Daher rührt wiederum eine Menge einzelner Konsequenzen, die die weise, vorsichtige, ausgewogene Lebensstellung des Einzelnen und der gesamten Menschheit zur Natur, zum Kosmos und zum Natürlichen, Kosmischen, Körperhaften im Menschen selbst betreffen. Es folgt daraus, wenn man so will, eine ganze Lebens- und Todesphilosophie, die die kosmisch-natürliche Seite des menschlichen Wesens und Daseins unbedingt beachtet.
Andereseits liegt eine, für den Menschen nicht weniger bedeutsame, Wahrheit auch in der „Position“ der Thesis. Die dem Menschen verliehene Spontaneität des Handelns (d.h., wie es bei Kant heißt, das Vermögen, „eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“), – ist nicht Willkürliches, sondern wurzelt im inneren Gleichgewicht des Weltalls, des Kosmos, in der göttlichen Fürsorge darüber. Die praktischen Konsequenzen dieser, mit Kant zu reden, „transzendentalen Freiheit“, liegen auf der Hand: In der Position der Thesis findet der Mensch die allertiefsten, wahrhaft kosmischen Wurzel seiner Freiheit, seiner Aktivität, seiner Wahlmöglichkeiten. Und wenn man seine Gedanken aus der frühen Schrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ mit beachtet, so hegt Kant eine Hoffnung darauf, daß es im Kosmos auch andere Vernunftwesen gibt. Und deswegen ist der Mensch nach Kant zu einem Stolzgefühl von seinem Anteil an der Tendenz der kosmischen Elemente, die auf eine „absolute“ Spontaneität, oder göttliche Freiheit, zurückgehen.
Die angeführte Allgemeinparadoxie wird, wie dies aus Kants theoretischen Ausführungen und aus der Praxis der Geschichte gleichermaßen erhellt, dem Menschen nicht gnadenhaft-unwidersprüchlich gegeben, sondern eben als eine unaufhebbare und schmerzhaft zu erlebende Antinomie aufgegeben. Der Mensch kann in seinem Leben, in seinem Handeln objektiv und subjektiv bald (überwiegend) zur Linie der Thesis, bald aber zur Linie der Antithesis hinneigen. In anderen Worten kann er sich manchmal, in mancher Hinsicht, und ab und zu auch in seinem Wesen, bloß der äußeren natürlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeit unterworfen empfinden, und als ein gehorsames Werkzeug in ihrer Hand handeln. (Dann wird er tatsächlich zum Tributzahler gegenüber der Antithesis, wie schulweise und metaphysisch diese Position bei Kant auch immer formuliert ist). Es ist jedoch dem Menschen nicht verstattet, sich dem „metaphysischen Konformismus“ (wenn man uns diesen Ausdruck erlaubt) ganz hinzugeben. Denn er gehört ebenso objektiv auch zur Welt der Freiheit: er soll beständig spontan, von selbst eine Reihe von Erscheinungen anfangen, die, obwohl bisher nicht vorhanden, sich dennoch in die Gesamtkette der den Naturgesetzen unterworfenen Tatsachen sogleich einfügen. Eine solche „Neureihe“ der Kausalität ist die menschliche Gesellschaft selbst, deren Werdegang und zivilisationsmäßige Vervollkommnung sich jedoch der „Kausalität durch Natur“ anpassen soll, welches ebenfalls der menschlichen Gesellschaft recht mühevoll gelingt. Solche Neureihen, die eben und gerade von der Menschheit spontan, und in diesem Sinne auch frei, angefangen werden, sind die Sphären des Sollens, also der Sittlichkeit und des Rechts. Auch der Einzelmensch kann hier nicht bloß spontan, frei, auf der Basis von eigener Wahl handeln, sondern kann er auch im gewissen Sinn nicht anders handeln. Denn der Mensch gehört nach Kant nicht allein zur Naturwelt, sondern auch zur übernatürlichen, oder intelligiblen Welt. Kant sagt: „Es mögen noch so viel Naturgründe, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen herrvorbringen, sondern nur ein noch lange nicht notwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt“ [1, B576].
Also ist der Antinomismus, d.h. die unaufhebbare Widersprüchlichkeit, der Thesis und Antithesis, der Kausalität durch Natur und der Kausalität durch Freiheit, keine Erfindung Kants, sondern eine gedankliche Verallgemeinerung des unverbrüchlichen Schicksals, dar dramatischen Koexistenz des Menschen und der Natur. Sowie auch eine Verallgemeinerung der unaufhebbaren Dramatik des Menschengeistes, des historischen Zweikampfes der „Partei“ der Thesis, also der Partei der Freiheit, und der „Partei“ der Antithesis, also der Partei der Notwendigkeit. (Es versteht sich von selbst, daß das Wort „Partei“ hier keineswegs in einem eng politischen, sondern vielmehr in einem metaphysischen Sinne verwendet wird, obwohl der Kampf zwischen solcherartigen „metaphysischen“ Parteien nicht selten auch in der Politik eine Widerspiegelung findet.)
Dieser Zweikampf, in unterschiedlichsten Erscheinungsformen, durchzieht die ganze Menschengeschichte, insbesondere auch die Geschichte des menschlichen Denkens. Kant hat dies tief eingesehen, und darin liegt sein gewaltiger Verdienst um die Menschheit. Er hat de facto bewiesen, daß beide Parteien, sowohl auf dem Schauplartz des praktischen Lebens, als auch in der Sphäre des Geistes, auch ohne einer scheinbaren Konsolidierung unaufhörlich fortbestehen, sich reproduzieren und gegeneinander kämpfen werden. Ist aber nicht etwa zu erwarten, daß eine davon (etwa die Partei der Freiheit) die Gegenpartei besiegen wird, oder daß Thesis und Antithesis in einer dritten, angeblich richtigeren Position aufgehoben werden? In jener Position z.B., die die Freiheit als „erkannte Notwendigkeit“ definiert dadurch den ganzen „Widerstreit der Vernunft mit sich selbst“ angeblich überflüssig macht? Nach Kant wäre eine solche Hoffnung durchaus naiv. Ihm ist nun insofern rechtzugeben, daß die Unaufhebbarkeit der Vernunftantinomien eine Widerspiegelung des Antinomismus in der Realität selbst, in der Praxis des rationalen menschlichen Handelns ist.
Davon kann man sich durch die Reflexion auf die lebendige Erfahrung eines jeden überzeugen. Bekennen wir uns selbst aufrichtig: solange und insofern ein jeder von uns eigene Handlungen für die Zukunft plant oder diese post factum begreift, kann der Prinzip der Freiheit unmöglich einen garantierten oder offenkundigen Vorrang vor dem Prinzip des Determinismus besitzen. Das weiß jedermann sehr gut, da wir uns, wie spontan auch immer unsere Einzelhandlungen sein mögen, doch einer Vielheit von natürlichen und sozialen Notwendigkeiten unterwerfen. Darüber hinaus üben wir täglich Begründungs- und Rechtfertigungsprozeduren dieser Handlungen für uns und für andere aus, bei denen Verweise auf die Macht objektiver Sachverhalte natürlicher oder sozialer Art vorherrschend sind. Politiker aller Zeiten und Nationen, besonders nach einer Niederlage in politischen Kämpfen, nehmen zur Erklärung dieser Niederlage gar oft zu „deterministischen“ Argumenten Zuflucht. In vielem basiert auch die Selbstrechtfertigung von Einzelnen, die gegen rechtliche und sittliche Normen verstoßen hat (insbesondere der Verbrecher und ihrer Rechtsanwälte), ebenfalls auf „deterministischen“ Hinweisen auf unaufhebbare objektive Sachverhalte. Natürlich kann man auf unsere Rechtfertigungen und Argumenten dieser Art (die an Kants Argumente aus reinen Vernunft zugunsten der objektiven Bedingtheit von Taten, Handlungen, Ideen erstaunlich nahekommen) durchaus sachliche Gegenargumente vorbringen.
Allgemein gesagt, verteidigen die Verfechter der Freiheit das Freiheitsvermögen und Imputabilität des Menschen ebenfalls unter Berufung auf reelle Züge des menschlichen Handelns und Denkens. Trotz aller Macht und determinierender Wirkungskraft der äußeren Kräfte kann der Mensch auch in scheinbar „auswegslosen“ Situationen gewissenhaft Wahlmöglichkeiten, Handlungsvarianten, also Freiheitsoptionen entdecken. Die Anhänger des Gedankens, wonach Freiheit unter allen Umständen und Bedingungen Priorität besitzen muß, können jedoch mit der von Kant vorgeschlagenen Lösung der allgemeinen Freiheitsparadoxie (und ganz besonders in der „Kritik der reinen Vernunft“) unzufrieden bleiben. Denn Kant will, wie oben gezeigt wurde, solange er sich im „Raum“ der theoretischen Vernunft bewegt, keineswegs irgendwelche absolute Priorität des Freiheitsprinzips behaupten. Wie groß die Unzufriedenheit bei der „Freiheitspartie“ (der ich persönlich sehr sympatisiere) auch sein mag, so entspricht dennoch eben und gerade die Beibehaltung der Antinomie von Freiheit und Determinismus den Realitäten der geschichte und des alltäglichen Handelns. Nehmen wir etwa den Gegensatz der Thesis und der Antithesis in der Weltpolitik, in welcher es zwei Arten von Politikern immer gegeben hat und auch heute gibt. Die einen beachten in ihrer Stellung zu einzelnen Nationen und Völkern jene Ereignisse, die schon zu einer beinahe unzerreißbaren Kette von geschichtlichen Determinationen verwoben sind. Z.B. zwei Länder haben in ihren gegenseitigen Beziehungen eine ziemlich negative Erfahrungen angehäuft. Der Ansatz der „Politiker der Antithesis“, um die es sich hier handelt, lautet nun: aus der historischen Erfahrung von gegenseitigem Mißtrauen und Gegeneinander der Länder, Ländergruppen undf der Völker läßt es sich auf keine Weise „herausspringen“. Und ist man zwar („anstandshalber“, wie sie meinen) gezwungen, Friedens- und Kooperationswörter zu sprechen, so muß man doch in der Tat (und insgeheim) den Gegensatz fortsetzen, da dieser geschichtlich bedingt ist. Sie haben, wie ich hoffe, in dieser Typenbeschreibung die keineswegs wenigen Politiker wiedererkannt, die auch in der Welt von heute, obwohl nicht mit Worten, aber doch mit Taten den „kalten Krieg“ fortführen.
Man begegnet doch auch, obwohl zum Bedauern viel seltener, Politiker anderer Art. Auch sie erinnern sich natürlich an die Vergangenheit, auch sie empfinden Beleidigungsschmerzen oder, im Gegenteil, Schuldgefühle, wenn es sich um Lösungen für gewisse internationale Probleme handelt. Sie zeigen sich aber bereit und fähig, von dieser „natürlichen“ Kausalität der Geschichte abzusehen und in den Beziehungen zu anderen Nationen und Völkern „eine neue Reihe“ von Taten und Beziehungen, die mit Friedens- und Verständigungsgeboten im Einklang sind, „frei anzufangen“. Das ist nun eben eine Politik, die aus dem Prinzip der „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ folgt, wenn man sich hier diesen für die Gegenwart wichtigsten Begriff Kants bedienen darf. Eine solche Politik harmoniert auch mit dem Prinzip der Freiheit in seiner Kant’schen Auslegung. Und in der Welt der Gegenwart scheint die „Partei der Freiheit“ besonders viele Vorteile und Aussichten zu besitzen. Aber auch hier stößt man immer wieder auf Schwierigkeiten und Widersprüche.
So hat z.B. die Erfahrung Rußlands der letzten jahrzehnte überzeugend gezeigt: daß, obwohl die Reformer das Freiheitsprinzip zurecht vorgesetzt haben, die eigentliche Strategie der Bewegung eines riesengroßen Staates zur Freiheit blieb jedoch undurchdacht und blieb also auch, in ihrer komplexen gegenseitigen Verflechtung mit historisch ausgebildeten Erfahrungen, mit sozialen Ordnungen, Gleichgewichten, mit dem „System der Rückhalte und Gegengewichte“ nicht verwirklicht. Vieles hängt hier davon ab, daß im Bewußtsein der Einzelnen und im gesellschaftlichen Bewußtsein der Länder, die ein Zeitalter des Totalitarismus hinter sich haben, immer überhöhte Erwartungen in bezug auf die Erringung von sozialen Freiheiten sich zeigen. Es scheint dann, als ob, sobald man von allen diesen unschätzbaren Rechten und Freiheiten des menschen Besitz ergreift, auch das Leben aller oder sehr vieler Staatsbürger sich wie durch ein Wunder verändern wird. Grundsätzlich sind im heutigen Rußland schon positive Schritte auf die Anerkennung von Menschenrechten und –freiheiten und die Aufhebung einer ganzen Reihe von Freiheitsbeschränkungen hin durchgesetzt, die für die totalitäre gesellschaft charakteristisch waren. Aber die Erringung von neuen Freiheiten hat, wie es in der Geschichte auch immer vorkommt, auch neue soziale Probleme mit sich gebracht, von dem Umstand noch zu schweigen, daß wir von ferner und nicht allzu ferner Vergangenheit gewisse historisch determinierte Unfreiheiten geerbt haben.
Es wäre nun verfehlt zu behaupten, daß etwa Länder mit langen freiheitlichen und demokratischen Traditionen sich heutzutage rühmen können, daß sie die Freiheitsparadoxien in Griff bekommen haben. Eins der grundlegenden Mängel der gegenwärtigen Zivilisation besteht darin, daß Durchsetzungsverfahren von formell anerkannten und angeblich allgemeinen Rechten und Freiheiten auf Bedingungen und Hindernisse reeller und sogar formalrechtlicher natur stoßen (soziale Ungleichheit, die rechtliche Ungleichheit nach sich zieht; elende Lage der „Erniedrigten und Verletzten“, bürokratische Hürden und mehrere andere, schon ausgebildete Ketten von Sozialursachen). Und obwohl dies eine allgemein anerkannte Tatsache ist, so sind doch in so mancher gegenwärtig dominierender rechtlich-politischer Reflexionsweise die Akzente bedeutend verschoben. So gilt etwa das Interesse der Bürgerrechtler in verschiedenen Ländern und Organisationen ausschließlich den Rechten und Freiheiten von marginalen Bevölkerungsschichten, den „protestbeladenen“ oder schlechtweg kriminellen Gruppierungen und Handlungen. Selbstverständlich soll man die Rechte von solchen Einzelnen und Sozialschichten verteidigen. Aber solche Bürgerrechtler hört man so gut wie gar nicht, wenn es sich etwa um Hunderte und Tausenden von gesetzesgehorsamen Bürgern handelt, die am Terrorismus leiden, mit jenen „Freiheitskämpfern“ konfrontiert werden, für die die Freiheit als Ziel alles, die Aufopferung von mehreren Menschenleben aber nichts ist. Diese Realitäten der Gegenwart bringen uns wieder zu den Paradoxien der Freiheit in der Lehre Kants zurück.
Freiheitsparadoxien im Bereich der praktischen Vernunft
Wir haben schon angedeutet, daß Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ von Anfang (Willens-)Freiheit als ein Ausgangspostulat einführt, die er, neben der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft betrachtet. Das bedeutet nach Kant: ohne einer Voraussetzung der Freiheit ist es nicht möglich, von der Sittlichkeit (und dementsprechend vom Recht) auch nur zu reden: „Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein“ [2, 280]. Bei genauerer betrachtung der zweiten Kritik Kants wird aber sogar ein wohlwollend gestimmter Leser staunend feststellen müssen, mit welchen Widersprüchen und Paradoxien die Verwirklichung dieses Postulats auch auf dem Boden der praktischen Vernunft verbunden ist. Die grundsätzliche Paradoxie besteht in folgendem.
Einerseits ist die Freiheit, wie schon oben gesagt, zum Postulat erklärt, also gewissermaßen auch zum Fundament des gesamten Bereichs der praktischen Vernunft, der in ihrer Kant’schen Deutung der Bereich des sittlichen, rechtlichen, und d.h., in einer gewissen Dimension, auch des sozialen Handelns ist.
Andereseits erweist es sich bei einer ausführlichen Erläuterung des Freiheitsprinzips, daß es im sittlich-rechtlichen, sozialen Bereich in seiner höchsten Erfüllung die Befolgung der Pflicht, des Sollensprinzips ist. Also wird die Unterordnung des Einzelnen gegenüber dem, was über seine (empirischen) Wünsche, seine (gewöhnichen) Glücksvorstellungen hinausgeht, – und oft sogar all diesem widerspricht. Die Pflicht mit lebhaften und feierlichen Worten charakterisierend, stellt sich Kant in bezug auf sie eine in der Tat bedeutsame Frage: „Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm entgegen wirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachläßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?“ [2, 509-511, 508-510].
Kants Antwort auf die Frage in bezug auf die Pflicht ist fachspezifisch und kompliziert. Den Ursprung des „aristokratischen“ Adels der Pflicht erblickt Kant zunächst im Vermögen des Menschen, seinen „pöbelhaften“ Neigungen, der „pathologischen“ Welt seiner Begierden zu widerstehen, zweitens aber im Personwerden des Einzelnen. Sehr wichtig dabei ist folgender Umstand: nur die Menschen sind es, und darin hat Kant völlig recht, die sich selbst dieWürde der Pflichtbefolgung und der Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen „zusprechen“ können. Wir würden noch hinzufügen: nur wahrhaft freie Menschen sind fähig, sich Verantwortung für sich selbst und für andere Einzelmenschen aufzuerlegen, hingegen ist das Bestreben des Menschen (wie auch der sozialen Gruppen, ja der ganzen Völker), sich selsbt lauter Rechte und Freiheiten zuzuschreiben, die volle Last der Verantwortung aber anderen aufzubürden, ein sicherer Merkmal ihrer tatsächlichen Unfreiheit. Und dennoch kann man Gesagtes unmöglich für ungesagt ausgeben: die Pflicht gebietet nach Kant recht streng Unterwerfung und Verehrung, gebietet auch, daß im Menschen „alle Neigungen verstummen“ sollen. Und das berühmte kategorische Imperativ Kants will dem Einzelmenschen ohne weiteres eine heilige Verpflichtung auferlegen, freiwillig und stolz als eine Art Urheber der ihn selbst beschränkenden „allgemeinen Gesetzgebung“ aufzutreten: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ ; [2, 348, 349]).
Diese Züge des moralischen Rigorismus Kants haben bekanntlich schon zu seinen Lebzeiten eine Welle der Kritik hervorgerufen (man erinnere sich etwa nur an die bekannten satirischen Verse F.Schillers). Am Ende des XIX. und im XX. Jahrhundert erhoben sich solche kritische Wogen immer wieder und führten manchmal zu negativen Wertungen der kantischen Ethik insgesamt, die beinahe zu einem Sinnbild „totalitärer“ Gewalt gegen die Persönlichkeit stilisiert wurde. Man erinnere sich an die negativen Charakterisierungen bei Nietzsche: „vom kategorischen Imperativ Kants stinkt’s nach Grausamkeit“ (Zur Genealogie der Moral, § 6), oder: Kant „gibt durch seine Moral folgendes zu verstehen: „in mir ist achtungswürdig, daß ich gehorchen kann, und bei ihnen soll es nicht anders sein als bei mir!“ (Jenseits von Gut und Böse, § 187), oder auch beim russischen Denker Lew Schestow: „Der kategorische Imperativ bei Kant, die utilitaristischen Prinzipien bei Mill hatten nur eine einzige Bestimmung: den Menschen an die mittelmäßigen, gewohnten Lebensnormen zu binden, die man als schlechthin für alle Menschen gleichermaßen tauglich voraussetzte“ [3, 212].
Kant hat, hier muß man es gerechterweise anerkennen, durchaus verstanden, daß dadurch jene angeblich der gesamten reinen Vernunft zugrundegelegte Freiheit wieder entflieht und wiederum – wie schon auf dem Boden reiner theoretischer Vernunft – unverwirklicht und unverbürgt bleibt. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ (und besonders in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“) gibt es mehrere Bekenntnisse dieser Art. So macht Kant z.B., indem er fast am Schluß der „Grundlegung“ die vorhergehende Erörterung zusammenfaßt, ein Geständnis, das durchaus fähig ist, die Verfechter der Freiheitsidee zu verblüffen: „Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wen wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d.i. mit einem Willen begabt, uns denken wollen…“ [2, 227-229, 226-228].
„Man muß es frei gestehen“, schreibt Kant, daß wir gleichsam in einen circulus vitiosus geraten: „Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken…“ [2, 232, 233]. Kants Kritiker vom Schlage Nietzsches, Schestows oder der Postmodernisten könnten wohl bemerken, daß im Text der ethischen und rechtsphilosophischen Schriften Kants das Wort „Freiheit“ wohl seltener vorkommt als Wendungen wie „Unterordnung“, „Zwang“, „Selbstzwang“ – diesmal nicht gegenüber der Naturkausalität, sondern gegenüber derPflicht, dem kategorischen Imperativ, den moralischen und anderen sittlichen (sowie auch rechtlichen und allgemein-sozialen) Normen. Für diese Kritiker ist, wie wir dies am Besipiel Nietzsches gesehen haben, ganz besonders der Umstand inakzeptabel, daß als höchster Ausdruck der eigenen Freiheit und Autonomie, und zugleich damit als ein Ausweg aus den vom großen Denker aufrichtig skizzierten Freiheitsparadoxien hier eine freiwillige Unterwerfung seiner Selbst („Selbstzwang“) unter einer überindividuellen („allgemeinen“) Gesetzgebung gilt. Daher wird, aus ihrer Sicht, die Ethik Kants zu einem beinahe „totalitären“, gegenüber dem Einzelnen sogar „grausamen“ ethischen System, das im Grunde und letzten Endes das von ihm selbst postulierte Freiheitsprinzip tatsächlich annuliert. Solche Kritiken sollten, wie ich glaube, nicht schlechtweg abgelehnt werden. Aber spricht man nun von den bei Kant tief und ernsthaft aufgedeckten Freiheitsparadoxien, so ist von vornherein anzuerkennen: diese Paradoxien beziehen sich nicht nur, ja nicht erstrangig, zu seinem ethischen System, als vielmehr zur Widersprüchlichkeit, ja Paradoxalität, des reellen Systems des menschlichen Handelns.
In meiner Sicht entsprechen die Paradoxien des kantischen Rigorismus der wirklichen Härte, und bisweilen sogar Grausamkeit, der moralischen Regelung des praktischen Handelns wie des Bewußtseins einer jeden menschlichen Persönlichkeit. Seit dem Zeitalter Kants haben diese Härte und Grausamkeit nicht allein in nichts nachgelassen, sondern sind in gewissem Maß gesteigert. Und noch eine Paradoxie: mit der gesellschaftlichen Entwicklung, mit der Erhebung und Vertiefung des moralischen (Rechts-) Bewußtseins des Einzelnen und der Gesellschaft wird wahrscheinlich der Konflikt der Neigungen und der Pflicht, der Wahl der Mittel – und der Verfechtung der Zwecke (wie auch der Konflikt zwischen formalem Recht und materiellem Interesse), von der Person selbst keineswegs weniger scharf und tief erlebt, als im Zeitalter der traditionellen (oder totalitären) rechtlich-moralischen Regelung. Ich denke, Kant, den man so gerne der Abstraktheit und des Rigorismus beschuldigte, erweist sich in Wirklichkeit realistischer, als die gegenwärtigen und früheren schönmütigen Apologeten einer Freiheit um jeden Preis, einer zwanglosen, verantwortungslosen Freiheit. Denn diese letzteren erfinden zunächst – in hochfliegenden Wendungen und von der harten Realität abstrahierend – ein gewisses Gedankenbild größtmöglicher Freiheit, dem Zwang, erst recht aber dem Selbstzwang entgegengesetzt, und dann überfallen die Realität mit Anklagen, sobald diese ihren Träumen nicht entsprechend sich äußert, wie auch jene Theoretiker, die, wie etwa Kant, der wirklichen Widersprüchlichkeit des Menschenlebens näherkommen.
Ist es also nicht realistischer, lebensnaher, sich den „Geboten“ sittlicher Pflicht möglichst genau zu unterwerfen und den Freiheitsmaß ausschließlich in dem Grad der Freiwilligkeit zu erblicken, der Bereitschaft, demjenigen in den Dienst zu treten, was jederzeit als unsere moralische Pflicht erkannt wird? Ist nicht dies (wie die strengsten Kritiker meinen) die eigentliche Lehre der Ethik Kants? Diese Konsequenz widerspricht meiner Meinung nach einer wesentlichen Besonderheit der Kant’schen Theorie der praktischen Vernunft und einer weiteren Freiheitsparadoxie. Es ist dies die Paradoxie der erfahrungsmäßig vorhandenen, der historisch-konkreten, und der allgemeinen, in Kants Terminologie, der ethischen (sowie der rechtlichen, der allgemein-sozialen) Regelung. Unterwerfen wir uns rücksichtslos, kritiklos, ethischen (und dementsprechend auch rechtlichen) Regeln eines bestimmten Zeitalters, so handeln wir doch nicht im Sinne Kants. (Freilich müssen wir auch diesen Regeln gegenüber eine gewisse Achtung zollen, zumindest gegen die Tatsache selbst, daß wie auch immer geartete Handlungsnormen in der Gesellschaft vorhanden sind). Das für Kant entscheidende Zeugnis der moralischen (rechtlichen) Denkungsart ist die Orientierung an der allgemeinen Form des Sittengesetzes, an der moralischen Pflicht als solcher. Das hatten auch Kantkritiker im Sinne, indem sie dem Philosophen Formalismus und Universalismus vorwarfen. Jedoch unterstellt die Form des kategorischen Imperativs bei Kant selbst, daß jeder Einzelne – bei allen äußeren Zwängen – dennoch frei genug ist, um zwischen verschiedenen Maximen (allgemeinen Formeln) des Handelns zugunsten solcher zu wählen, die er gleichsam in seinem eigenen Namen dem Menschengeschlecht als Grundsätze einer allgemeinen Gesetzgebung inhaltlich empfehlen kann. Die Kritiker, welche Kant für seinen Rigorismus und Universalismus Vorwürfe machen, übersehen dabei, daß die Verwandlung des kategoriscchen Imperativs in eine allgemeinverpflichtende Handlungsmaxime einen durchaus konkreten Lebenssinn haben kann.
So würden z.B. jene Einzelmenschen (oder Menschengruppen, oder Nationen), die Beschlüsse fassen und/oder vollziehen, wonach man im Namen der Freiheit und der Demokratie andere Völker und Nationen in offensiver Weise, ja sogar mit Waffenmacht und durch blutige Kriegshandlungen, zur Demokratie zwingen darf oder vielleicht sogar soll, den Test am Maßstab des kategorischen Imperativs Kants offenbar nicht bestehen. Denn sie hätten dann Einzelnen, Völkern, Nationen empfehlen müssen, in derselben Weise auch gegen sie und ihre Nationen zu handeln, die sich „Mentoren der Freiheit und Demokratie“ wähnen.
Fazit. Ich will keineswegs behaupten, daß etwa Kants Freiheitslehre einwandfrei sei und keiner Kritik verdiene. Als umfassender konzept gehört sie mit allen ihren Einzelheiten der Vergangenheit. Eine neue, unseren Zeiten entsprechende Freiheitstheorie ist, wie es scheint, noch zu schaffen. Aber bei derEntwicklung einer solchen Theorie müßte man, wie ich glaube, auf die reelle und unaufhebbare Paradoxalität, ja Antinomismus der Handlungen um der Freiheit willen und der menschlichen Freiheitsgedanken, die gegenseitige Verflechtung der Kausalität durch Freiheit mit der Kausalität durch Natur, auf die unzertrennliche Einheit der Wahlfreiheit und der Selbstunterwerfung unter Pflichtgebote, die Wechselwirkung von Freiheit und Verantwortung unbedingt Rücksicht nehmen. Man muß sich die Gefahren einer angeblichen „Überwindung“ der Antinomien im Sinne der Propaganda zugunsten einer gewissen absoluten, verantwortungslosen Freiheit, eines wie auch immer blutigen Kampfes um diese Freiheit, – oder im Gegenteil im Sinne einer konformistischen, totalitären Freiheitsaufopferung (die sich oft als „erkannte Notwendigkeit“ verkleidet).
Und alles oben Gesagte (wie auch vieles Andere, was außerhalb der Rahmen meines Vortrags bleiben muß), bedeutet, daß wir Kants Beitrag zum Verständnis der Freiheit und zur Sache der Freiheit selbst durchaus beachten und hoch zu schätzen wissen.
Bibliographie:
- Kant I. Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Berlin: de Gruyter Verlag, 1900 ff.
- Kant I. Werke. Zweisprachige deutschßrussische Ausgabe. Herausgeber Nelli Motroschilowa, Burkhard Tuschling. Moskau, 1997.
- Schestow L. Dostojewskij i Nietzsche (Dostojewskij und Nietzsche). Sankt-Petersburg, 1903.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Motroschilowa N.W. Paradoxien der Freiheit in der Philosophie Kants: Ihre aktuelle Bedeutung// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2005. S. 24 – 38.