Monique Castillo. Die Selbstkritik als allerletztes Schicksal der europäischen Aufklärung?
Einführung
Um eine Kritik der Vernunft, die zu der Aufklärung gehört, von einer Kritik der Vernunft, die sich gegen die Aufklärung wendet, zu unterscheiden, muss man drei verschiedenen Bedeutungen vom Wort „Aufklärung“ berücksichtigen:
- eine engere philosophische Bedeutung, welche die Aufklärung als Zerstörung der Vorurteile und der Traditionen begreift.
- eine weitere philosophische Bedeutung, für die die Kritik der Vernunft die Vitalität der Vernunft ausmacht.
- eine historisch-kulturelle Bedeutung, welche die Aufklärung mit dem Schicksal der europäischen, dann westlichen, Kultur identifiziert.
Unser Vortrag wird zwei Paradigmen der Kritik der Aufklärung entgegensetzen, um zur Frage der zeitgenössischen Verständlichkeit der Aufklärung zu führen. Das erste Paradigma ist kantisch, da der Kantismus selbst eine Kritik der Aufklärung erzeugt hat, deren Wirkung darin bestanden hat, die echte Bestimmung der Vernunft erkennen zu lassen, die praktisch ist. Das zweite Paradigma, das sich selbst antimodern erklärt und in Europa infolge des zweiten Weltkrieges geboren wurde, den Totalitarismus mit dem Scheitern der westlichen Aufklärung verbindet. Daraus entsteht die folgende Frage: kann eine dermaßen radikale Kritik zu einer Regeneration der Aufklärung führen, oder führt sie nur zu ihrem Ruin? Wir werden, um darauf zu antworten, drei zeitgenössische Lektüren des Schicksals der Aufklärung erwähnen, das der Aufklärung nach der Kritik der Aufklärung geschah:
- die Selbstkritik als allerletztes Schicksal der europäischen Aufklärung
- der kommunikative Wiederaufbau der praktischen Vernunft
- die neue ethische Entfaltung der Vernunft als „erweiterte Denkungsart“
– I –
Zwei Paradigmen der Kritik der Aufklärung
A) Das kantische Paradigma:
Die Kritik der Urteilsfraft (§ 40) stellt sich die Aufklärung dar, die mit der Befreiung vom Aberglauben identifiziert wurde, als ein bloβ negatives Moment in der Denkungsart[1]. Kant bezeichnet damit eine einfach skeptische Praxis der rein vernichtenden Kritik der Vorurteile, da die skeptische Kritik ist, was zerstört, ohne wieder aufzubauen. Allein, während die skeptische, oberflächliche Aufklärung sich nur einen externen Feind wie Religion, Tradition oder soziale Macht angreift, bringt Kant seinerseits das Bedürfnis der Kritik auf sein echtes Tiefenniveau : indem er die Aufklärung als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“[2] definiert, macht er mit der Selbstkritik (handelt es sich um ein Individuum oder ein Volk) das Prinzip einer Revolution der Denkungsart, die fähig ist, gegen den inneren Feind zu kämpfen, d.h. die Bereitwilligkeit und das spontane Einverständnis von jedem für seine eigene Sklaverei. Keine Freiheit ohne Verantwortung, welche für jeden mit dem Mut beginnt, in sich selbst die Neigung zu beschuldigen, seine eigene Vernunft im Dienst der Macht von anderen zu stellen.
Sicherlich hat die konservative, anti-moderne Kritik ebenfalls den Negativismus der Aufklärung in Frage gestellt, aber allein mit dem Ziel, die dogmatischen Praktiken des Glaubens und der Tradition aufrechtzuerhalten: in diesem Fall, den Negativismus der Vernunft zu leugnen heiβt die Macht der Emanzipation und der Beleuchtung der Aufklärung zu leugnen. Das kantische Vorgehen ist offensichtlich ganz anders, denn, während sie die auflösende Macht des Verstands kritisiert, bringt sie die Vernunft zu ihrer echten Bestimmung zurück, die praktisch ist. Kant hat vollkommen wahrgenommen das Risiko einer Abweichung der Aufklärung in einen zügellosen Szientismus, der jeden ethischen Rücksicht auf Leben und Natur zerstört : da der Verstand darauf abzielt, seine Macht durchzusetzen, ist es also notwendig, dass die kritische Philosophie eine Kritik der negativen Aufklärung ausführt, damit die Vernunft den Ehrgeiz einer Gesamtmacht des Verstands beschränkt: das Wissen muss begrenzt werden und die Priorität des praktischen vernünftigen Interesses anerkannt werden. Solch ist das kantische Paradigma : jede Selbstkritik der Vernunft hat notwendigerweise eine deontologische Quelle und kann nur darauf abzielen, den Glauben an Vernunft wiederaufzubauen; jede Niederreiβung setzt einen Wiederaufbau voraus, jeder Verdacht setzt einen Glauben voraus.: « Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen[3] », was vor allem ein Glauben an die Praktische Vernunft ist. Deswegen muss die Modernität als eine Suche und nicht als ein Besitz definiert werden: „ Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung“[4]. Ist das nicht in gewisser Weise eine Fortsetzung der Berufung, die Kant den Erben der Aufklärung zuwies: eine gemeinsame Dynamik, die durch ihre eigenen Werte immer weiter über sich hinausgetragen wird? Für Hegel auch, die Vernunft geht über die einfach negative Aufklärung hinaus, um das Leben der Kultur wie die Entwicklung und Selbstverstehen des Geistes einzufassen : „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes[5]“. Kant selbst interpretiert moralisch die religiöse Symbolik und entdeckt in ihr eine geistige Dimension. Die christliche Idee der Kommunion, zum Beispiel, ist auch eine Form der erweiterten Denkungsart ; sie « enthält etwas Großes, die enge, eigenlebige und unvertragsame Denkungsart der Menschen, vornehmlich in Religion Sachen, zur Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft… eine Gemeinde zu der darunter vorgestellten sittlichen Gesinnung der brüderlichen Liebe zu beleben[6] ».
B) Das antimoderne Paradigmes
Eine ganz andere kritische Tonalität lässt sich im XX. Jahrhundert nach den Katastrophen hören, die durch die zwei Weltkriege verursacht wurden. Vor allem weiß man, dass die Industrialisierung einen unbarmherzigen Wettbewerb unter den Nationen, sowie Massenproduktion, Kriege und Verbrechen zur Folge hatte. Die Intellektuellen befassten sich damit, die alten herrschaftlichen oder imperialistischen Träume zu demontieren, sie haben den Prozess des Eurozentrismus angestoßen, sie haben die Existenz einer europäischen Identität in Frage gestellt: Europa hätte so nur eine einzige Identität, nämlich die, keine Identität zu haben.
Die westliche Modernität wird als utilitaristisch, individualistisch, technisch, westzentrisch, verheerend, angeprangert. Die Aufklärung wird selbst angeklagt, in Keim die totalitären Abweichungen des 20. Jahrhunderts getragen zu haben. „Die Vernunft ist totalitär“ dachte Adorno: sie verhält sich hinsichtlich der Sachen als ein Diktator hinsichtlich der Menschen: er kennt sie, so weit er sie manipulieren kann.“[7] Dieser Text hat im Jahre 1947 erschienen. Er wird lange Zeit einen schrecklichen Verdacht auf der Vernunft ruhen lassen : mit dem aus der Aufklärung entstandenen Rationalitätsideal wurde die totalitäre Rationalisierung des Massenmords verbindet.
Die neue Kritische Theorie erklärt durch eine dialektische Umkehrung der Vernunft das, was sie als das verhängnisvolle Schicksal der Modernität der Aufklärung anschaut : die Rationalisierung der Mittel hat die Vernünftigkeit der Zwecke übertroffen. In kantischen Worten: es ist nicht die Vernunft, sondern der Verstand, der es überwogen hat. In adornischen Worten : das Freiheitsprojekt hat sich in Beherrschungsprojekt verwandelt; man beginnt, sich von der Natur zu befreien, indem man die Natur beherrscht, dann aber die ganze Gesellschaft wird wiederum zu einem Manipulationsinstrument der Menschen. Dementsprechend ist der Sieg des Humanismus nicht humanistisch, sondern nur bürgerlich: er stellt die Staatsmacht im Dienst eines Vorgangs einer unbeschränkten Warenschaffung.
Ohne den besonderen Inhalt dieser radikalen Kritik zu beurteilen, kann man nicht die Kohärenz desselben auf formeller Ebene schätzen? Es ist klar, dass man das Paradigma wechselt: man geht von einer philosophischen Kritik zu einer soziologischen Kritik der Aufklärung über, und so geht man von der Selbstkritik der Vernunft zur Selbstkritik der Gesellschaft über, die die Vernunft fördert. Trotzdem bleibt die philosophische Frage: ist es möglich, dass eine Selbstkritik der Vernunft sich in eine Selbstzerstörung der Vernunft verwandelt? Führt eine radikale Kritik der instrumentalen Vernunft eine Gesamtzerstörung der Aufklärung oder eine andere Praxis der Aufklärung herbei? Mit anderen Worten: was kann Aufklärung nach einer solchen Entwertung der Aufklärung werden?
– II –
Dekonstruktion und Rekonstruktion der praktischen Vernunft
Es ist möglich, zwei sehr verschiedene fortsetzende Figuren zu identifizieren.
A. Die Selbstkritik als allerletztes Schicksal der europäischen Aufklärung.
Die Erste folgt dem Urteil der kritischen Theorie als negativer Dialektik: diese muss „Selbstreflexion der Dialektik“ sein, das heißt „ eine Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht… Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, dass sie sich nicht bei sich beruhigt“[8]. Mit anderen Worten: eine permanente Selbstkritik muss als das allerletzte Schicksal der europäischen Aufklärung geübt werden. Postmodernität wird gleichbedeutend mit Antimodernität. Dies ist der Weg, dem in Frankreich Denker wie Derrida oder Lyotard zum Beispiel eingeschlagen haben. In ihren Augen illustriert die Geschichte der Vernunft von der Aufklärung aus bis zum Marxismus dieselbe Hoffnung auf Totalisierung, und das rationalistische Ideal der Aufklärung wäre schließlich in der Erfahrung des Totalitarismus gescheitert[9]. Lyotard setzt die adornische Kritik der identitären Rationalität fort, und erwartet von der Postmodernität einen therapeutischen Skeptizismus, der eine Selbstzensur des Schriftstellers erfordert. Dieser muss auf den intellektuellen Lustprinzip verzichten (welcher der Traum oder das Imaginäre von der Ganzheit, d.h. der Versöhnung des Menschen und der Welt ist), um einen neuen philosophischen Realitätsprinzip anzunehmen: die Unversöhnung als kritischer Stand zu akzeptieren und nur von einer erhabenen, aber unvorstellbaren Freiheit, von einer nicht darstellbaren Einheit zu sagen.
Für Denker wie Adorno oder Heidegger wird die ganze westliche Rationalität in Frage gestellt und soll sie vor dem Gericht der Geschichte erscheinen. Für Adorno hat eben die soziale und politische Vollbringung der Modernität ihr eigenes Scheitern bedeutet. Derselbe hat die wohlbekannte und am meisten dramatisierte Formulierung dieser Krisis geliefert: die Modernität wäre in Auschwitz zum Abschluss gekommen. Die Wahrheit des Massenindividualismus wäre diejenige der Konzentrationslagern: die Individuen wären, wie jeden beherrschten Gegenstand wesentlich manipulierbar und versetzbar geworden. Für Heidegger enthüllt die Metaphysik der Subjektivität ihr wahres Gesicht, dasjenige der Neuzeit, das heißt, eine reine Logik der Herrschaft und des Willens zur Macht: das kantische Phenomenalismus hätte sich im nietzscheanischen Individualismus und Perspektivismus historisch erfüllt: es gäbe keine Welt mehr, sondern nur Interpretationen der Welt. Die Realität wird auf eine Perspektive reduziert, sie ist nichts anderes als das Ergebnis einer subjektiven Vorstellung.
Man könnte „paradoxe Aufklärung “ diese Übung der Vernunft nennen, die darauf abzielt, aus Furcht vor einer totalitären Wirkung die Verwirklichung der Vernunft zu verhindern. Es ist die Praxis einer „permanenten Dekonstruktion“, die darauf abzielt, die Vernunft aufzuklären, über was sie von sich selbst verkennt, und ihr erkennen zu lassen, dass, sie mit unbewusst der Technik (heideggerianische Fassung) und dem Kapitalismus (marxistische Fassung) unterworfen wird. Die zweite Hälfte des XX. europäischen Jahrhunderts ist durch diese dekonstruktive Praxis der Kritik geprägt worden, die der negativen und skeptischen Aufklärung ähnelt. Heute findet man davon eine Fortsetzung in der Art, wie die Europäer einen selbstkritischen Pluralismus ausüben. Man hat dem Stil von J. Derrida nachgesagt, dass seine „gefolterte Sprache“ sich eine absolute Entblößung zu erreichen bemüht, wodurch der Schriftsteller für jeden „schuldigen Begehr nach Ganzheit“ im Voraus büßt. Das Hellsehen wird paradoxerweise zu einer hermetischen Ausübung, wodurch ein Individuum, das Angst hat, wie ein universales Subjekt zu denken, nur das Unvermögen ihrer Kultur ausdrücken kann, sich Zwecke zu stecken, die ideologisch nicht auszunützen sind. Heute, bei Denkern wie Ulrich Beck oder Axel Honneth zum Beispiel ist der Pluralismus eine Art, der negativen Dialektik eine Fortsetzung zu geben. Der europäische Pluralismus ist selbstkritisch, wenn er sich zu akzeptieren entscheidet, dass die Kritik der Aufklärung, des europäischen Humanismus und Universalismus heute zur Forderung des Rechts zu den kulturellen Differenzen jener gehört, die nicht westlich geboren wurden. Ein solcher Pluralismus muss als eine europäische Selbstkritik Europas gelten und sich als die vorbeugende Ablehnung jeder hegemonialen Versuchung öffentlich erweisen.
B. Eine andere Dialektik aber kommt ebenfalls in Spiel: jene, welche die Maßnahme der Katastrophe ergreift, die eine Selbstvernichtung der Vernunft (eine „Euthanasie der Vernunft“), in einer gefährlichen wieder gewordenen Welt sein kann. „Es wäre eben so viel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, dass es keine Vernunft gebe“ schreibt Kant. Habermas gibt diesem kantischen Argument einen Sinn wieder, wenn er denkt, dass „Die totale Selbstkritik der Vernunft verwickelt sich in einem performativen Widerspruch: sie kann die Vernunft überzeugen, zum Thema ihres autoritären Charakters zentriert, nur indem sie Rückgriff auf dieselben Mittel dieser Vernunft hat“[10]. Wie kann man zwar die Frage beantworten, welches höchste Interesse die Kritik der Vernunft leitet?
Denn eins von beiden:
– oder ist dieses Interesse theoretisch, und die Kritik der Vernunft ist dann eine externe Kritik, welche die Vernunft nach den Kenntnissen beurteilt, die von den Geisteswissenschaften geleistet wurden, aber dies schlieβlich den Sieg des Positivismus gewährleistet, und die Macht desselben zu beherrschen ausdehnt.
– oder wird die Suche nach Selbsterkenntnis von Vernunft durch ein praktisches Interesse geleitet, welches nur ein Interesse zur Emanzipation sein kann.
Ein Interesse zur Emanzipation, dessen Sinn und Einsätze heute geändert werden: es handelt sich nicht mehr so sehr darum, die Individuen durch die Verbreitung des Wissens vom Aberglaube zu befreien, wie es im 18. Jahrhundert war; es handelt sich darum bevorzugt und dringend, das praktische Bedürfnis der Vernunft von seiner reinen und einfachen Reduzierung auf eine Ideologie zu befreien, welche die theoretische und historistische Kritik der Aufklärung im 20. Jahrhundert als selbstverständlich zuletzt aufgedrängt hatte.. Was man auch über den bloβ verfahrensartigen Charakter der Diskursethik und ihre Grenzen auf ethischer Ebene denkt, dank ihr aber wird der praktischen Vernunft eine Erbschaft gegeben, die den Herausforderungen entsprechend ist, die durch die Globalisierung gebracht wurden: kommunikative Intersubjektivität ist gerade bei Apel und Habermas als ein rationaler wesentlich praktischer Bedarf für die Einrichtung eines weltweiten öffentlichen Raums nach Normen definiert worden, die angenommen und geteilt werden können; ein solches Bedürfnis überschreitet sicherlich das Gebiet der instrumentalen Rationalität, die es gar nicht erzeugen kann.
Die Kommunikationsethik will über das Stadium eines utilitaristischen und pragmatischen Konsenses hinausreichen zugunsten einer Rekonstruktion der praktischen Vernunft. Es geht darum, universell Normen aufzustellen, die in der Lage sind, das gemeinsame Leben mit der Zustimmung der Partner zu regeln. Auf diesem Niveau gibt die Argumentationspraxis die ethischen Prinzipien des Austausches. Argumentieren heißt, die Intersubjektivität als Ursprung des Sinnes von jeglichem individuellen Wort anzunehmen. Die Kommunikationsethik geht nicht vom denkenden Subjekt aus, sondern vom argumentierenden Subjekt. Der Gedankengang ist der folgende: Will ein Individuum von der Richtigkeit einer Idee überzeugen, will es von allen verstanden werden. Dafür akzeptiert es, Normen zu respektieren, die Normen nämlich, die das Verstehen seiner Rede durch andere möglich machen. Es erlegt sich Zwänge auf, die gleichzeitig über seine Person und die Gemeinschaft, der es angehört, hinausgehen, um eine ideale Kommunikationsgemeinschaft zu erreichen.
Die öffentlichen Debatten in den Medien, an den Universitäten und in den Parlamenten schaffen einen demokratischen Diskussionsraum, in dem jeder lernt, in das für ihn überzeugendste Argument einzuwilligen. Nicht Kraft noch Verführung sind aufgerufen, zu obsiegen, sondern Selbsterziehung der Meinung dank einer Dialog, die die Geister lehrt, auf sich selbst einzuwirken und aus sich selbst heraus vernunftmäßig zu denken.
Diese Praxis hat jedoch ihre Grenzen, denn sie beschränkt sich darauf, juristisch abstrakte und formale Normen gegenseitigen Respekts zu formulieren, die aber nicht die Gründe für das Leben, die ultimativen Motive, die jeder seinem Leben zumisst, berühren. Sie regeln die Beziehungen zwischen den Menschen und den Staaten, ohne sich zu irgendeiner Mystik oder Metaphysik zu bekennen oder Leidenschaft zu erregen, aber sie verstehen es, überzeugend darzutun, dass man neue Steuern oder neue Verträge zu akzeptieren hat, oder aber gegenseitiger Hilfe leisten soll, um zu verhindern, dass die Ungleichheit unerträglich wird. Nur unter dieser Bedingung ist die Hinnahme von Zwängen möglich, jedoch im Tausch mit dem, was Habermas „abstrakte Solidarität“ nennt, das heißt eine einfach juristische Solidarität, eine Solidarität zwischen Personen, die einander fremd sind und voneinander getrennt bleiben.
III
Die neue ethische Entfaltung der Vernunft als „erweiterte Denkungsart“
Die „erweiterte Denkungsart“
Sicherlich verstand Kant selbst die Nachfolge der Aufklärung als kommunikativ: „« Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihrer Gedanken mittheilen, dächten“[11]. Diese Meinung wurde wieder aufgenommen in der dritten Kritik mit dem Ausdruck „erweiterte Denkungsart“[12], das heißt: “an der Stelle jedes andern denken“. Nun aber scheint es möglich diesem Ausdruck einen ästhetischen, ethischen und selbst religiösen Sinn, als einer dritten Art, die Aufklärung heutzutage vom neuen zu denken. Dann hat sich heute noch geändert unserer Beziehung zur Aufklärung, und gibt es einen anderen Weg für die Ausübung der erweiterten Denkungsart, den Weg des Verständnisses, durch das was Kant « symbolische Hypotypose » nennt.
Heute, ein neues Bild der westlichen Modernität zeichnet sich zwar ab: das Bild einer intellektuell relativierten Kultur unter anderen, die sowohl äußerlich (durch Gewalt) als auch innerlich (durch die nihilistische Fassung seines eigenen Relativismus) ontologisch bedroht wird. So dass eine neue Art, Freiheit und Wissenschaft zu verbinden, notwendig geworden ist, um die Zukunft zu denken; und diese führt zurück, die ursprüngliche Berufung der Aufklärung ohne Vorurteil vom neuen zu überprüfen, die von einem (mit husserlischen Worten) „unendlichen Aufgabenhorizont als Einheit einer unendlichen Aufgabe“[13].
Europa lebt mit der Schande, imperialistisch, totalitär und kolonialistisch gewesen zu sein. Deswegen neigt es dazu, aus der Verachtung seiner selbst ein Zeichen von Toleranz und Weltoffenheit zu machen, gerade so, als sei seine Selbstverneinung das ultimative Zeugnis des Universalismus seiner Werte: Ein antieuropäischer Moralismus ist zum inneren Feind der europäischen Kultur geworden. Aber diese Verleugnung ist so kontraproduktiv geworden, dass sie Europa in Gefahr bringt: Entkultivierung, Relativismus, Antihumanismus zerstören es unmerklich von innen her in einem Grade, dass die Rhetorik der “political correctness” machtlos geworden ist im Hinblick auf die Abwendung von Gefahren durch kurzlebige Illusionen von Einmütigkeit. Also, die kantische Aufklärung heute von neuen zu denken, das heißt, den Glauben der Europäer an ihre eigene Zivilisation wieder zu herstellen.
Wir brauchen eine kollektive Intelligenz unseres sporadisch verteilten Wissens. Eine neue Art öffentlicher Kultur muss zutage treten, denn weniger die extreme Spezialisierung der Akteure als ihr gegenseitiges Verständnis ist künftig die Zugangsberechtigung zur selben gemeinsamen Realität. Ein kultureller Kosmopolitismus ist denkbar, weil seine Vitalität nicht gleichbedeutend ist mit Hegemonie, sondern mit Ausstrahlung, da er nicht aus einer Summe von Eroberungen besteht, sondern aus einer Form von Energie. Die Macht der Inspiration zu vermehren, ist eine Form von „Brüderlichkeit“, die in keiner Weise von den neuen Kommunikationsmitteln zunichte gemacht wird.
Die kantische Ästhetik ermöglicht es, insofern sie die Kommunikation zwischen Menschen als das echte Wesen aller menschlichen Kultur, da « Humanität einerseits das allgemeine Theilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen sich innigt und allgemein mittheilen zu können bedeutet.[14] » So, an esthetical conception of universalism is not a technical one. It doesn’t consist in identifying universalism to a mere homogenization of social habits, to a destruction of values by reducing them to a single commercial sub-culture, to the same conditioning and the same levelling. That confusion reduces culture to an exclusively instrumental relation to objects, whereas culture has a vocation for inspiring an esthetical-ethical relation to the world and to the others. While a technical conception of communication sees the other (other man, other culture) as a conditioned thought, the ethical-esthetical conception sees the others as the condition for the very possibility to think.
We must acknowledge that a culture is not an enclosed reality, a closed and finished language, similar to a dead language that would endlessly reproduce its own past only. On the contrary, a culture has a vocation for growing richer in what she gives, in what she makes it possible, to be understood and traduced in other symbolic languages.
Die „Generosität“ der Aufklärung
Diese neue ethische Entfaltung der universalistischen Berufung der Aufklärung in der Kürze zu beschreiben wird man eine Eingebung von Emmanuel Lévinas benutzen, die aus seinem Buch Humanismus des anderen Menschen entnommen wurde, weil sie sich auf die ästhetische, ethische und sogar anthropologische „Generosität“ der Aufklärung beruft. Die Kritik der Aufklärung, sagt er im wesentlichen, hat zur Zerstörung des Platonismus geführt; diese Zerstörung aber beweist durch sich selbst die ethische Vitalität des westlichen Universalismus. (Zitat) „Es war notwendig, dass die Philosophie der zeitgenössischen Ethnologie folgte. So wird der Platonismus besiegt! Er wird aber gerade im Namen der Großzügigkeit des westlichen Denkens besiegt, welches, indem es den abstrakten Menschen in allen Menschen einsieht, den absoluten Wert der Person verkündet hat (…) Der Platonismus wird durch dieselben Mittel besiegt, wie diejenigen, die das aus Plato entstammte universale Denken geliefert hat“[15]. Dieser Text ist zu Sinnreich, um oberflächlischerweise erklärt zu werden. Man wird ihn also der Interpretation überlassen, indem man die Arten angeben wird, es zu interpretieren, welche auch die Arten sind, für die Zukunft das Erbe der Aufklärung zu übernehmen.
Der „besiegte Platonismus“ erwähnt den Erfolg der Prognosen von Nietzsche auf der westlichen Zivilisation sowie der heideggerianischen Lektüre von Nietzsche. Man kann zwar die Entstehung der Aufklärung in einer einfach historistischen Hinsicht behandeln, und so kann man die Entstehung der Aufklärung als ein einfaches Zeitalter der Geschichte der Welt isolieren und relativieren, die, wie jede andere Zivilisation, zum Opfer der Werten werden kann, die sie selbst geschaffen hat. Somit, wenn die westliche Ethnologie selbst behauptet, dass alle Kulturen vom gleichen sind, bringt sie nur eine Umkehrung der Aufklärung zum Abschluss, die Aufklärung selbst programmieren kann.
Trotzdem findet dann keine Reduzierungs- und Selbstvernichtungshandlung statt, sondern eine Schenkungshandlung, eine Gabe. In der ethnologischen „Zerstörung“ von sich selbst führt die Philosophie der Aufklärung ihre eigene kulturelle Kreativität aus, indem sie die Vitalität der Kulturen anerkennt, die ihr fremd oder feindselig sind. So wird offenbar die authentische Berufung des Universalismus der Aufklärung, eine Berufung, die der kulturelle Reduktionismus zerstört, bevor er es begreift: ihre allerletzte Zweckbestimmung ist nicht die Beherrschung, sondern die Ausstrahlung, da die Wirkung einer Philosophie sich nie durch Beherrschung, sondern nur durch Großzügigkeit ausführt. Dies war die Großzügigkeit der Aufklärung, eine Großzügigkeit, die ein eng und dogmatisch kultureller Egalitarismus in Vergessenheit bringt, und von nun an unverständlich macht. Freiheit, Gleichheit und Würde von jedem rational zu Grundrechten machen ist eine „Generosität“ der Aufklärung, die, dank dem Wirken der Abstraktion möglich ist: alle Kinder werden abhängig geboren, man weiß es aus Erfahrung, aber die Vernunft sieht sie frei an, genauso wie sie in einem Feind seinesgleichen dem Recht nach erkennt. Die Vernunft, die die Abweichungen der Vernunft selbst verurteilt, ist kein Inhalt, sondern eine reine Energie[16], die sich nur verwirklicht, indem sie sich unendlichen Aufgaben gibt…, das heißt unaufhörliche neue Anfänge.
Hören wir zum Schluss eine der Formeln von Patočka wie sein Testament:
„Europa hat zwei Wege zur Befreiung des Planeten gebahnt: den äußeren Weg der Eroberung und universellen Hegemonie, welcher sein Ruin als historische Entität war, und den inneren Weg der Befreiung des Planeten als Befreiung der Welt, als Weltwerdende der Lebenswelt, der Weg, der nun wiederentdeckt und nach den Katastrophen des Außen und den Wirrungen und Fehlleistungen des Inneren bis zu seinem Ende gegangen werden muss[17]“.
Dieser Vortrag wurde am 21. – 23. April 2014 im Rahmen der XI Internationalen Kant-Konferenz in Kaliningrad gehalten und im Sammelband der Konferenz veroeffentlicht:
Castillo, M. Die Selbstkritik als allerletztes Schicksal der europӓischen Aufklӓrung?// XI Кантовские чтения: Кантовский проект просвещения сегодня = XI Kant Readings: Kant’s Enlightenment Project Today: Материалы международной конференции, 21 – 23 апреля 2014 г. – Калининград: Изд-во БФУ им. И. Канта, 2014. С. 5 – 18.
[1] Kant, Kritik der Urteilskraft, AK, V, 294.
[2] Kant, Was ist Aufklärung ? AK, VIII, 35.
[3] Kant, Kritik der reinen Vernunft, AK, III, S. 19.
[4] Kant, Was ist Aufklärung?, AK, VIII, 40.
[5] Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Ein Ullstein Buch, S. 29.
[6] Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen vernunft, AK, VI, S. 199
[7] T. W. Adorno, M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Dialectique de la raison, Paris, 1974 , 27.
[8] T.W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp, 1973, S. 398.
[9] J.F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, 1993, p. 93.
[10] J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Le discours philosophique de la modernité, Paris, 1988, 219.
[11] Kant, Was heiβt: sich im Denken Orientieren?, AK, VIII, 144.
[12] Kant, Kritik der Urteilskraft, AK, VIII, 40
[13] Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie.
[14] Kant, Tugendlehre, § 34. Kritik der Urteilskraft, AK, V, § 60, S. 355.
[15] E. Lévinas, Humanisme de l’autre homme, Paris, 1972, 55.
[16] E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. (traduction française, Fayard, Paris, 1970, page 48).
[17] Jan Patočka, Europa nach Europa, L’Europe après l’Europe », Editions Verdier, Paris, 2007, p. 43.