Matthias Becker. Wladimir Solowjows Versuch einer Neufassung des Kategorischen Imperatives Kants

Wladimir Solowjow

Wladimir Solowjow

Wenn über die praktische Philosophie Solowjows gesprochen werden soll, dann muß man zuallerst die Beziehung Solowjows zu Immanuel Kant erwähnen. Daß Kant ergänzt werden muß, – diesen Grundton findet man in der Auseinandersetzung Solowjows mit der praktischen Philosophie Kants in der „Kritik der abstrakten Prinzipien“. Diese Ergänzung Kants zeigt sich in der Form, daß Solowjow eine Neufassung des kategorischen Imperativs vorschlägt, die er so verstanden wissen will, als ginge es auf dem Boden der Kantschen Philosophie um eine Verbesserung dieser, indem man nur gewisse „Unzulänglichkeiten“ zu beseitigen habe. Worin Kant ergänzt werden soll, ist nach Solowjow bei Schopenhauer zu suchen, genauer in dessen Gefühlsethik, in deren Zentrum das Mitleid steht. Eine reine Gefühlsethik wie bei Schopenhauer lehnt Solowjow kategorisch ab – da hält sich Solowjow bei der Begründung einer Ethik mehr an Kant –, aber Gefühl und Neigung dürfen nicht so entschieden in einer Begründung einer Sittlichkeit verneint werden, wie Kant es getan hatte.

Solowjow ist sich der Bedeutung des kategorischen Imperativs für eine Begründung sittlichen Handelns bewußt, denn er unterstreicht, daß die Ethik Kants eine sittliche Handlung nach allgemeingültigen Grundlagen zu beurteilen weiß, somit ihr Verbindlichkeit zukommen kann. Jedoch setzt sich Solowjow von Kant in einer Hinsicht entschieden ab: Für ihn kann eine sittliche Neigung keinesfalls einer sittlichen Pflicht hemmend entgegenstehen, wie er folgendermaßen zu begründen sucht:

„Das Bewußtsein der Pflicht und die natürliche Neigung können in ein und derselben Handlung vereinigt sein, und das vermindert dem allgemeinen Bewußtsein nach den sittlichen Wert einer Handlung nicht nur nicht, sondern vergrößert ihn im Gegenteil, wenn auch Kant, wie wir sahen, an der entgegengesetzten Meinung festhält und fordert, daß eine Handlung ausschließlich aus Pflicht geschehen solle, wobei die Neigung zu guten Handlungen ihren sittlichen Wert nur vermindern könne. … Da durch die Pflicht die allgemeine Form des sittlichen Prinzips als eines universalen und notwendigen bestimmt wird, die sympathische Neigung jedoch ein psychologisches Motiv des sittlichen Handelns ist, so können diese beiden Faktoren einander nicht widersprechen, da sie sich auf verschiedene Seiten einer Sache beziehen – die materiale und die formale, und da in der Sittlichkeit wie auch in allem übrigen Form und Materie gleichermaßen notwendig sind, so ist folglich das rationale Prinzip in der Moral als einer unbedingten Pflicht …, das heißt als eines allgemeinen und notwendigen Gesetzes für ein vernünftiges Wesen mit dem empirischen Prinzip der Sittlichkeit als einer natürlichen Neigung zum Mitgefühl in einem lebenden Wesen voll und ganz vereinbar.“ [1, 123 f.]

Die Begründung der Bevorzugung der Einheit von sittlichem Gefühl und sittlicher Pflicht gegenüber einer die Neigung und das Gefühl ausschließenden sittlichen Pflicht erfolgt bei Solowjow weniger aus der Diskussion der sittlichen Handlung, sie bezieht sich vielmehr auf Argumente metaphysischer Art: Pflicht und Neigung verhalten sich wie Form und Materie zueinander. Insofern sich Form und Materie in der Wirklichkeit nur in ihrer Einheit vorstellen lassen, muß wirkliche Sittlichkeit in ihrer höchsten Form nur die Einheit von Pflicht und Neigung sein.

Hier wird bei Solowjow Aristoteles bemüht, um zu unterstreichen, daß eine sittliche Handlung Pflicht und Neigung zugleich bedarf. Das von Aristoteles eingeführte Verhältnis von Form und Materie hier dafür, daß eine wirklich ausgezeichnete sittliche Handlung sich aus zwei Ebenen aufbauen muß: einmal aus einer Ebene der Form, wofür die Vernunft steht, zum anderen aus einer Ebene der Materie des Handelns, was durch Gefühl und Neigung ausgedrückt wird. Es ist für Solowjow nun bezeichnend, daß er den Begriff der Materie des Handelns nicht auf etwas dem Menschen Äußeres anwendet, sondern auf seine innere Welt, genauer die der Gefühle und Neigungen. Dies stellt für ihn die Materie einer sittlichen Handlung dar, also die causa materialis. Die causa formalis ist demgegenüber die die sittliche Handlung begründende Vernunft.

Aber auch die zweite Form des kategorischen Imperativs Kants will der russische Philosoph ergänzt wissen. Kant selbst begründete die Notwendigkeit einer weiteren Form des kategorischen Imperativs damit, daß nicht nur das Prinzip der Pflicht auf den sittlich handelnden einzelnen Menschen bezogen werden muß, sondern auch auf alle vernünftigen Wesen. In der Diskussion dieser zweiten Fassung des kategorischen Imperativs greift nun Solowjow den Begriff des „vernünftigen Wesens“ bei Kant auf. Er stellt sich selbst die Frage, was der Begriff eines „vernünftigen Wesens“ für eine Ethik darstellen soll, und zwar in der Hinsicht, als man „alle vernünftige Wesen“ zu vereinigen sucht. Die Frage ist aber rhetorischer Art, denn Solowjow zweifelt daran, den Begriff eines „vernünftigen Wesens“ in einer Ethik vorauszusetzen. Daß dieser Begriff für eine Ethik ohne Konsequenz ist, versucht er nun derart zu beweisen:

„… und in der Tat versteht Kant in seiner Ethik unter einem vernünftigen Wesen immer ein Wesen, das praktische Vernunft und sittlichen Willen besitzt. Aber muß man hier ein tatsächliches Besitzen, als Akt, in der Verwirklichung, oder aber nur ein potentielles, als Möglichkeit oder Fähigkeit, verstehen?“ [1, 126]

Kant würde eine solche Argumentation sicherlich eigenartig vorkommen. Eine Unterscheidung zwischen einer Verwirklichung der praktischen Vernunft und einer Potenz einer praktischen Vernunft läge ihm fern. Jede Verwirklichung birgt natürlich auch die Möglichkeit in sich, jeder Akt ist als erneute Anwendung des Gesetzes der praktischen Vernunft eine verwirklichte Möglichkeit wie auch eine neue Möglichkeit. Jede Anwendung des Gesetzes der praktischen Vernunft ist Bewegung, in der sich Möglichkeit und Wirklichkeit gegenseitig bedingen, und indem sich der Mensch der vollendeten Verwirklichung des Sittengesetzes nur nähert, es jedoch niemals zu verwirklichen vermag, kann eine Wirklichkeit der praktischen Vernunft niemals die Möglichkeit dieser verdrängen. Die praktische Vernunft ist bei Kant immer möglich und wirklich zugleich, sie ist ein Prozeß.

Solowjow fordert aber nun diese Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit einer praktischen Vernunft und ihrer Potenz. Er stellt natürlich nicht in Frage, daß der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, aber stellt in Frage, daß er als vernünftiges Wesen zugleich auch ein praktisch vernünftiges Wesen sein muß, er zweifelt also an, daß Vernunft identisch mit dem Vorhandensein eines sittlichen Willens ist. Insofern ist es für ihn von diesem Ansatz her sinnvoll, nach dem Kern des Begriffes „vernünftiges Wesen“ in einer Ethik zu fragen. Und daraus ergibt sich dann, nicht jedem Vernunftwesen eine praktische Vernunft oder einen sittlichen Willen zuschreiben zu können. Solowjow unterscheidet dann zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit einer praktischen Vernunft, und zwar genauer zwischen einer absoluten Wirklichkeit und einer absoluten Möglichkeit, die sich in ihrer beidseitigen Absolutheit gegenüberstehen müssen. Sie schließen einander aus, so daß es zu einer Fallunterscheidung bei der Betrachtung der praktischen Vernunft kommen muß. Das heißt: Solowjow nimmt nicht als Voraussetzung an, daß ich vernünftige Wesen vorfinde, sondern daß ich Wesen auf ihre Vernünftigkeit unterscheiden muß. Dies zeigt sich bei den Argumenten Solowjows inbezug auf den ersten Fall seiner Unterscheidung, also für den Fall, wenn das tatsächliche Besitzen der praktischen Vernunft in Betracht gezogen wird:

„Im ersten Fall würde man unter vernünftigen Wesen, die das einzige Objekt des verbindlichen sittlichen Handelns darstellen, nur solche verstehen, in denen sich das sittliche Gesetz in der Tat verwirklicht, das heißt Gerechte [pravedniki], und folglich könnten wir nur inbezug auf Gerechte eine sittliche Pflicht haben. Doch eine solche Annahme führt erstens zu unsinnigen Folgen, die zu offensichtlich sind, als daß man sich darüber verbreiten könnte; zweitens stellt sie einen geschlossenen logischen Zirkel dar, sofern hier das sittliche Gesetz durch sein Objekt (die vernünftigen Wesen als selbständige Zwecke), dieses Objekt jedoch seinerseits nur durch seine tatsächliche Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetz bestimmt wird. Drittens widerspricht diese Annahme geradezu dem formalen Prinzip der Sittlichkeit als absolut notwendigem. Wenn wir der genannten Annahme entsprechend die Pflicht hätten, sittlich nur in bezug auf Personen zu handeln, die das sittliche Gesetz in sich verwirklichen, das heißt [in bezug] auf Gerechte …, so würde in der Tat, falls sich im Bereich unserer Tätigkeit kein einziger Gerechter zeigte (was nicht nur möglich, sondern auch durchaus wahrscheinlich ist), eben damit für uns jede sittliche Pflicht … aufgehoben. Auf diese Weise würde die Verbindlichkeit des sittlichen Gesetzes für gegebene Subjekte von der zufälligen empirischen Tatsache der Existenz anderer Subjekte abhängen, die dieses Gesetz verwirklichen und dadurch Gegenstand unseres sittlichen Handelns sein können. Indessen muß das sittliche Prinzip seiner allgemeinen Form nach für jedes Subjekt absolute Pflicht sein, völlig unabhängig davon, welche empirischen Gegebenheiten auch immer bestehen mögen, unter anderem auch unabhängig davon, ob diese Pflicht von jemand erfüllt wird, so auch von uns selbst.“ [1, 126 ff.]

Die Schlußfolgerungen, die Solowjow hier anführt für den Fall, daß man den Begriff „vernünftiges Wesen“ so faßt, indem der wirkliche Besitz der praktischen Vernunft angenommen wird, scheinen verwirrend. Zu sehr wird offensichtlich, daß Kant hier von dem russischen Denker völlig anders ausgelegt wird. Und zwar begibt sich Solowjow hier auf eine Bezugsebene, die der von Kant scheinbar völlig entgegengesetzt ist. Wenn gesagt wurde, daß Solowjow voraussetzt, daß sich die vernünftigen Wesen dadurch unterscheiden, in welchem Maße sie sich in der Ausübung der praktischen Vernunft unterscheiden, so nimmt er in seiner Fallunterscheidung den krassesten aller möglichen Unterschiede an: Einmal gibt es Wesen, denen die praktische Vernunft uneingeschränkt zukommt, es wären dies die pravedniki, die Gerechten, die sittlich Vollkommenen, zum anderen gibt es solche, die nicht sittlich vollkommen sind, das wären dann fast alle anderen Wesen, d.h. die Masse der scheinbar vernünftigen Wesen. Eine solche radikale Unterscheidung würde natürlich überhaupt den Prozeß des Sittlich-Werdens der vernünftigen Wesen unterschlagen, wie ihn Kant in seiner praktischen Philosophie vortrug. Schon die Annahme von vernünftigen Wesen, die sich durch den Besitz von Vernünftigkeit von anderen Wesen unterscheiden, denen diese absolut nicht zukommt, wäre eine Voraussetzung, die den Boden der Kantschen Philosophie verläßt. Diese vernünftigen Wesen, die im Besitz der praktischen Vernunft sind, wären die sittlich Vollkommenen, nach Solowjow die Gerechten (pravedniki). Kant sprach aber den Menschen als vernünftigen Wesen nur die Annäherung an die sittliche Vollkommenheit zu. Er verstand praktische Vernunft als einen Prozeß, nicht als einen Zustand des Besitzens oder Nicht-Besitzens. Indem Solowjow derart den Boden der Ethik Kants verläßt, sind seine Beweise dahingehend, in welche Widersprüche sich das Denken Kants verstricken würde, wenn man praktische Vernunft nur als Besitz dieser versteht, abwegig. Solowjow erkennt selbst die Abwegigkeit seiner Argumente an, wenn er im weiteren Verlauf  seiner Gedanken zubilligt, daß man Kant näher kommt, wenn man den Begriff „vernünftiges Wesen“ derart versteht, daß es um die Potenz einer praktischen Vernunft geht, zugleich damit sich selbst eingestehend, daß seine vorangegangenen Argumente nicht die Kantsche Philosophie getroffen haben:

„… Also ist es undenkbar, daß der tatsächliche Besitz von praktischer Vernunft oder sittlichem Willen die Bedingung ist, die das ausschließliche Objekt des sittlichen Handelns bestimmt, und in der Tat beschränkt sich Kant auf die Forderung des bloßen potentiellen Besitzes.“ [1, 28]

Aber es erweist sich, daß die Annahme des „bloßen“ potentiellen Besitzes Solowjow auch nicht zufriedenstellt, denn er meint hier ebenfalls Widersprüche in der Philosophie Kants auszumachen:

„… Aber es fragt sich: Aufgrund wessen können wir die Wesen hinsichtlich dieser Fähigkeit einteilen, das heißt anerkennen, daß einige von ihnen sie besitzen und einige nicht, daß einige vernünftig freie Wesen sind und andere nicht? Hier sind zwei Standpunkte möglich. Der erste von ihnen, der empirische, der alle Wesen als Erscheinungen in dem notwendigen Zusammenhang ihrer faktischen, vorhandenen Existenz betrachtet, unterwirft sie alle, ohne Ausnahme, dem gleichen Gesetz der Naturnotwendigkeit und bietet folglich nicht nur keine Grundlagen für die aufgezeigte Einteilung, sondern schließt sie geradezu aus. … Der andere Standpunkt, auf den sich die formale Ethik nur stützen kann, erkennt an, daß alle Wesen, während sie zweifellos von der empirischen Seite [gesehen] Erscheinungen und Tatsachen sind, zugleich nicht nur Erscheinungen und Tatsachen, sondern  etwas Größeres sind, nämlich ein eigenes inneres Wesen besitzen, Dinge an sich … oder Noumena sind. In diesem ihrem intelligiblen Wesen können sie nicht der äußeren, empirischen Notwendigkeit unterworfen sein und besitzen folglich Freiheit. Diese letztere gehört somit allen Wesen ohne Ausnahme, … , und so stellt sich … eine ursprüngliche Gleichartigkeit … aller Wesen in der aufgezeigten Hinsicht heraus, und es gibt keine Trennung zwischen ihnen, und folglich kann es auch keine, weder empirische noch spekulative Gründe geben, die vernünftige Wesen den nichtvernünftigen absolut gegenüberstellen und den sittliche Bereich auf den ersten beschränken.“ [1, 128 f.]

Solowjow dreht sich hier scheinbar im Kreise, und zweifelsohne ist dies Ausdruck davon, daß es ihm letztendlich um eine Position zwischen den beiden angenommenen Fällen geht. Denn wenn er zwar einräumt, daß bei Kant die vernünftigen Wesen nur in ihrer potentiellen Möglichkeit, praktischer Vernunft teilhaftig zu sein, zu fassen sind, stellt er nun fest, daß man dann die vernünftigen Wesen nicht mehr in ihrem Maß des Besitzes der sittlichen Vernunft unterscheiden kann. Also bedarf es nach Solowjow einer Unterscheidung zwischen Wesen, inwiefern sie praktische Vernunft besitzen oder nicht. Der Zirkel der Argumentation bei Solowjow beschreibt sich nun so: Nähme man an, daß die Menschen die praktische Vernunft wirklich besitzen, dann würde man die Gesellschaft in zwei Teile teilen, einmal in die sittlich Ausgezeichneten und zum anderen in die zur selbständigen sittlichen Handlung unfähigen. Nähme man andererseits an, daß allen Menschen in der Potenz die praktische Vernunft zukommt, dann fiele eine Unterscheidung zwischen den Menschen weg, sie wären somit alle als gleich anzusehen. Die Antwort Solowjows wäre dann: Die vernünftigen Wesen sind gleich und verschieden, – verschieden in dem Besitz der praktischen Vernunft, gleich in der Möglichkeit der praktischen Vernunft. Diese beiden Seiten müßte eine Ethik einzubringen haben. Anders ausgedrückt würde das heißen: eine Ethik müßte zum einen eine Normativität eines sittlichen Handelns ausdrücken, zum anderen müßte es auf die Gegebenheiten der Verwirklichung einer Normativität Rücksicht nehmen.

Was stellt sich nun als Konsequenz dar, um diese verschiedenen Ebenen zu einer Synthese zu bringen? Es muß der normative Charakter einer Ethik erhalten bleiben; die Form eines kategorischen Imperativs darf nicht verlassen werden, und zwar eines Imperativs, der sich direkt an das sittlich handelnde Subjekt zu wenden hat. Der Anlauf, den Solowjow nun nimmt, macht den direkten Bezug zu dem, was seine geistigen Ausgangspunkte sind, noch deutlich, indem er die angestrebte Synthese zwischen Kant und Schopenhauer so vollzieht:

„Wenn wir also den zweiten Ausdruck des formalen sittlichen Prinzips von Unbestimmtheit und inneren Widerspruch befreien, werden wir die folgende Maxime erhalten: Der sittliche Wille als solcher soll alle Wesen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu einem echten Gegenstand haben. Oder in der Form des Imperativs: Handle so, daß alle Wesen den Zweck und nicht nur das Mittel deines Handelns bilden. In dieser Form fällt die zweite Formel des kategorischen Imperativs offensichtlich mit dem höchsten Prinzip der empirischen Ethik, das von Schopenhauer aufgestellt wird, zusammen, nämlich: ‘Schade niemandem und hilf allen, soviel du kannst.‘“ [1, 129]

Womit ist nun die Synthese vollzogen? Zum einen mit dem undurchsichtigen Begriff „der sittliche Wille als solcher“. Es bleibt offen, ob dieser sittliche Wille ein sittlicher Wille ist, der an die sittlich handelnde Person gebunden ist, oder ob dies ein sittlicher Wille ist, der „als solcher“ sich schon gegenüber den sittlich handelnden Personen verselbständigt hat, der dann nur von denjenigen Menschen vollzogen wird, die sich gegenüber den anderen Menschen sittlich auszeichnen, und die als Verkörperung eines höheren sittlichen Willens auftreten.

Neben dem Begriff „der sittliche Wille als solcher“ kommt noch etwas weiteres hinzu, was die zweite Form des kategorischen Imperativs bei Kant erheblich verändert. Kant hatte betont, daß man so handeln solle, daß man die Menschheit sowohl in seiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel braucht. Zum einen ist der Begriff der „Menschheit“ bei Solowjow eliminiert. Er scheint für ihn unbrauchbar. Aber Solowjow benötigt etwas, was nicht nur an die Unmittelbarkeit der eigenen Person wie der anderer Personen (bei Kant als Menschheit) gebunden ist, sondern über diese Unmittelbarkeit hinaus geht. Der verselbständigte „sittliche Wille als solcher“ ist mit dem Begriff der „Menschheit“ nicht zu identifizieren. Die beiden Begriffe haben auch unterschiedliche Funktionen. Zwar tragen sie beide den Anspruch der Verallgemeinerung, aber während bei Kant der Begriff „Menschheit“ im kategorischen Imperativ abstrakt vorausgesetzt ist, wird er doch erst durch das sittliche Handeln, also den Vollzug des kategorischen Imperativs konkret. Ein „sittlicher Wille als solcher“ ist aber in seinem Anspruch auf Allgemeinheit vorausgesetzt, muß sich dann jedoch in diesem seinem Anspruch erst rechtfertigen. Der „sittliche Wille als solcher“ ist dann als Wille – weil eben Wille, der sich konkret vollzieht – konkret und nicht behaftet mit dem Vorwurf einer Abstraktion. Dieser Vorwurf der Abstraktion würde aber dem Begriff der „Menschheit“ bei Kant anhaften können, denn wenn sich Sittlichkeit nur über die eigene Person und die Unmittelbarkeit der anderen Person vollzieht, steht „Menschheit“ dann nur als die Summe aller Personen, welche Summe aber noch keine wirkliche konkrete Einheit darstellt. Wenn sich diese Einheit durch das sittliche Handeln der einzelnen Personen vollziehen soll, ist jedoch noch nicht bewiesen, daß sich eine solche wirkliche Einheit, die man als Menschheit bezeichnet, herausbilden wird, oder ob man immer nur einer Abstraktion einer Summe aller einzelnen Personen hinterherrennt. Der Schritt, den dann Solowjow im weiteren vollziehen wird, ist hier vorgegeben: Es entsteht die Vorstellung von einem Guten an sich.

Es sind noch andere Umformierungen bei Solowjow gegeben, die den Anschein geben sollen, den Boden der Kantschen Philosophie nicht zu verlassen, zugleich aber doch entscheidend diese umgestalten. Es steht da noch die Verwendung des Begriffs eines „Wesens“ gegenüber dem der „Person“, zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, daß ich auch Mitleid mit einem tierischen Wesen empfinden kann. Zudem auch der Begriff „alle Wesen“, der, wenn man mit „allen Wesen“ auch Tiere einbezieht, eine Abstraktion darstellt, die sich jeder handhabbaren Bestimmung entzieht. Völlig unverständlich wird der Begriff eines „echten Gegenstands“, wenn der „der sittliche Wille als solcher alle Wesen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu einem echten Gegenstand haben soll“. Was hier als „echter Gegenstand“ eingebracht werden soll, könnte dann wieder so gedeutet werden, daß bei Solowjow „alle Wesen“ in irgendeiner Form auch als wirklicher Gegenstand, damit echter Gegenstand zu verstehen ist. Betrachtet man das russische Wort für „echt“ (d.h. „podlinnyj“), dann könnte man noch mit „wahrhaft“ oder mit „wahr“ hier übersetzen, käme dann aber auch nicht dazu, weder einen „wahren Gegenstand“ eindeutig zu bestimmen, noch für ein Normativität handhabbar zu machen.

Es ist hier zusammenzufassen, daß die von Solowjow verfolgte Synthese von Kant und Schopenhauer so zu bewerten ist, daß Kant eine solche Umgestaltung durch Solowjow erfährt, auf daß er sich mit Schopenhauer verbinden kann. Dabei ist es sicherlich Schopenhauer, der eine Würdigung erfährt, denn er wird nicht im Gegensatz zu Kant gesehen, sondern vielmehr als derjenige, der an der Erscheinungswelt der Handlungen den Ausdruck für den als inneres Prinzip des sittlichen Handelns anzusehnenden kategorischen Imperativ Kants gefunden hat. Einer Ebene der Begründung von Handlungen wird eine Ebene des Vollzugs der Handlungen beigeben, wobei beides für Solowjow gleichgewichtig zunehmend gleichgewichtig wird. Die Veränderung des kategorischen Imperativs Kants durch Solowjow ist letztendlich Ausdruck des Ringens um eine Ausdehnung der Ebene einer philosophischen Bestimmung von Sittlichkeit auf dem Boden der Kantschen Errungenschaften in der Ethik, und zwar in der Form, nach Wegen zu suchen, etwas auf einer Handlungsebene, also in einem schon irgendwie eingeleiteten oder gegebenen Handeln zu bestimmen, welches der souveränen Sicht auf ein sittliches Handeln entbehrt, ohne die überzeugende Souveränität des kategorischen Imperativs aufgeben zu können und zu wollen. Am Ende ist vielleicht mehr nachgewiesen worden, daß es nicht möglich ist, als daß wirklich eine Lösung gefunden wurde.

Bibliographie

1. Solowjow, Wladimir.  Deutsche Gesamtausgabe der Werke. Bd. 1. München, 1978.

 

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Becker, Matthias. Wladimir Solowjows Versuch einer Neufassung des kategorischen Imperatives Kants// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2005. S. 152-160.