Katsutoshi Kawamura. Kants Kritik an der Goldenen Regel
Es ist bereits von mehreren Forschern wiederholt erwähnt und erläutert worden, dass zwischen dem Kantischen „kategorischen Imperativ“ und der „Goldenen Regel“ eine „Verwandtschaft“ besteht. Joachim Hruschka z.B. ist der Ansicht, dass „an einer Verwandtschaft von Goldener Regel … und kategorischem Imperativ kein Zweifel mehr bestehen“ kann[5, S. 941]. Norbert Hinske erläutert, dass Kant bei der Ausarbeitung des Kategorischen Imperativs die Goldene Regel vor Augen hatte[4, S. 50ff.]. Jedoch, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)[3] kritisiert Kant an der Goldenen Regel, dass sie kein allgemeines Gesetz der moralischen Handlung sein kann, weil sie u.a. keinen Grund der Liebespflichten gegen andere enthalte (vgl. GMS 430 Anm.). Man fragt sich, ob und in welchem Sinne zwischen der Goldenen Regel und dem kategorischen Imperativ eine Verwandtschaft besteht. Im folgenden wird versucht zu zeigen, dass die Goldene Regel ihre eigene Interesse-Unabhängigkeit von selbst allein nicht feststellen kann, sondern sie erst aufgrund der Zweckformel des kategorischen Imperativs erwerben mag. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass beim Vergleich mit der Goldenen Regel meistens nur auf die Verallgemeinerungsformel des kategorischen Imperativs Rücksicht genommen wird, und nicht auf dessen Zweckformel. M.E. aber ist es nötig, die Zweckformel des kategorischen Imperativs mit der Goldenen Regel zu vergleichen, um damit den Mangel dieser Regel begreifbar zu machen und zu beseitigen. In diesem Beitrag wird zunächst erläutert, was die Goldene Regel im eigentlichen Sinne ist. Dann wird die Kantische Kritik an ihr nachgeprüft, wobei auch überlegt wird, was Kant mit seiner Kritik an der Goldenen Regel genau gemeint hat.
I. Die Goldene Regel in der Tradition der Geistesgeschichte
Die sogenannte Goldene Regel, deren Terminus als solcher erst in der Neuzeit auftritt [9, S. 450], ist eine der grundlegendsten moralischen Handlungsregeln nicht nur in der Geschichte der abendländischen Kulturtradition, sondern auch in anderen Kulturkreisen, wie z.B. in der Tradition der chinesischen Sittenlehre. In Lun Yu, einer der bedeutendsten Schriften innerhalb des Konfuzianismus findet sich der folgende Satz: „Anderen nichts anzutun, was du dir nicht angetan wissen möchtest“[7, S. 142]. In diesem Satz liest man die Forderung: man darf andere nicht so behandeln, wie man auch selbst von anderen nicht behandelt werden will. Diese Forderung, so mag man wohl sagen, gilt als Handlungsnorm in Nordost-Asien seit über 2000 Jahren, und liegt im allgemeinen unserem moralischen Bewusstsein zugrunde.
Reflektiert man über die abendländische Geistesgeschichte, so erkennt man, dass sie als Regel der „Vulgärethik“ etwa seit dem 4. Jahrhundert vor Christus im griechisch-römischen Kulturkreis verbreitet wurde[3]. Das Wesen der Vulgärethik liegt, nach Albrecht Dihle, darin, „daß sie sich an das bindet, was die Menschen einer bestimmten Gesellschaftsordnung (bzw., je nach dem historischen und geographischen Horizont der betreffenden Menschen, auch mehrerer, kulturell und ethnisch verschiedener Gesellschaftsordnungen) als Regeln ihres Handelns anerkennen“[3, S. 6]. In der Tat braucht man nicht unbedingt die religiöse Autorität oder die wissenschaftliche Reflexion, um sie zu verstehen und anzuwenden. Sie setzt die Gewohnheiten des jeweiligen Kulturkreises voraus, und jeder kann sich aufgrund dieser Regel bei der Wahl des eigenen Handelns in den alltäglichen Situationen beschränken.
Was die Tradition des Christentums angeht, so findet sich die positive Formulierung der Goldenen Regel im Matthäusevangelium: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn das ist das Gesetz und die Propheten“[2, S. 7], und die negative Formulierung in der Tobit : „Was du verabscheust, tue keinem anderen an“[1, S. 492]. Aus dem Ausdruck „Gesetz und Propheten“ – Bücher aus dem Alten Testament – erkennt man, dass die Goldene Regel eine Sonderstelle betreffs der Handlungsregeln besitzt und als deren oberste Regel alle anderen Handlungsregeln unter sich subsumiert.
Im Kontext der neuzeitlichen Diskussion über den ersten Grundsatz der menschlichen Handlung wird die Goldene Regel als ein solcher Grundsatz reflektiert. Beschränkt man sich auf den Zeitraum des 18. Jahrhunderts in Deutschland, so sieht man sie bei Christian Thomasius, Christian Wolff u.a. In Thomasius Fundamenta Juris Naturae et Gentium (1705) finden sich die folgenden Formulierungen: „Was du willst, dass die anderen dir tun, das tue auch ihnen (Quod vis ut alii tibi faciant, tu ipsis facies)“ sowie „Was du nicht willst, dass dir geschieht, das tue auch dem anderen nicht (Quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris)“[10, S. 177]. Bei Wolffs Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (1754) liest man die Sätze: „Was man rechtmäßiger Weise nicht will, daß es uns von andern geschehe, das muß man einem anderen auch nicht thun; und was man rechtmäßiger Weise will, daß es geschehen soll, das muß man auch gegen andere ausüben“[11, S. 45f.]. In diesen Sätzen Wolffs sieht man eine Reform: Man darf nicht freiwillig, sondern muss „rechtmäßiger Weise“ etwas wünschen und verabscheuen.
Reflektiert man über diese Formulierungen der Goldenen Regel, so kann man schließen, dass dieser Regel eine Art der „Reziprozität“ zugrunde liegt. Diese Regel fordert von jedem, gegenüber jedem anderen gleichsam symmetrisch zu handeln. Nach dieser Regel muss man bei der Wahl des Handelns jedesmal das Gefühl und den Willen des anderen berücksichtigen, wobei die Selbstreflexion auf das eigene Gefühl und den Willen vorauszusetzen ist; man soll zuerst und zunächst wissen, was man sich von anderen wünscht, bzw. was man von ihnen verabscheut, und was man für Neigungen und Interessen in sich hat. Das eigene Gefühl zu verstehen und den eigenen Wille zu begreifen ist im Prinzip möglich, aber es ist schwer zu wissen, was für Gefühle der andere hat oder was der andere will. Hier taucht die Frage auf, ob und inwieweit man das Gefühl oder den Willen des anderen verstehen bzw. begreifen kann. Festzustellen ist, falls der kulturelle Unterschied zwischen den beiden Betreffenden sehr groß ist, dass es schwer sein kann, sich in den anderen einzufühlen. Im allgemeinen, je größer der kulturelle Unterschied wird, desto schwerer ist es, sich gegenseitig zu verstehen. Anders gesehen, kann man nur denjenigen gut verstehen, der einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund hat.
II. Die Kantische Kritik an der Goldenen Regel
Bevor ich auf die Kritik Kants an der Goldenen Regel eingehe, möchte ich hier kurz den kategorischen Imperativ ansprechen. In der Grundlegung wird der kategorische Imperativ im Vergleich mit dem hypothetischen Imperativ in folgender Weise erläutert: „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstelle“ (GMS 414). Falls man irgendeinen Zweck erreichen möchte, so muss man eine bestimmte Handlung durchführen, so befiehlt der hypothetische Imperativ. Z.B. falls ich die vor mir liegende Prüfung bestehen möchte, so muss ich mich hinsetzen und sie gut vorbereiten. Dagegen befiehlt der kategorische Imperativ eine Handlung an sich als Zweck, d.h. nicht um etwas anderes als Zweck zu erreichen, sondern er befiehlt unmittelbar eine Handlung als solche. Was das heißen soll wird weiter in folgender Art erläutert: „Wenn nun die Handlung bloß wozu anders als Mittel gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er kategorisch“ (ibid.). Der nach der Vernunft orientierte, gleichsam aber spontan orientierte Wille mag wohl ein vernunftmäßiger, und vernunftähnlicher Wille sein. Und was ein solcher Wille als „notwendig“ betrachtet, mag wohl eine Handlung sein, die dem Gesetz entspricht bzw. entsprechen kann. Eine gesetzmäßige Handlung mag wohl ohne weiteres durchgängig sein. Was hier im o.g. Satz als „an sich gut“ vorgestellt wird, kann nichts anderes sein als die Vorstellung einer Handlung, die widerspruchslos verallgemeinert werden kann; d.h. die Vorstellung einer Handlung, nach der alle Menschen ohne in „Widerspruch“ (GMS 422) zu geraten handeln können. Was Kant mit der guten, d.h. dem moralischen Gesetz entsprechenden Handlung meint, ist z.B. i) in der Situation des Übels und des Überdrusses am Leben sich nicht das Leben zu nehmen (vgl. GMS 422), ii) trotz dringender Not kein lügenhaftes Versprechen zu tun (ibid.), iii) die eigene Naturanlage zu kultivieren und zu verbessern (ibid.), und iv) das Glück des anderen zu unterstützen (ibid.).
Im folgenden werden die zwei Formeln des kategorischen Imperatives, nämlich die Formel der Verallgemeinerung und des Zwecks erläutert.
(a) „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS 421).
(b) „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS 429).
Der erste Satz fordert jeden, nicht nach einer normalen Maxime, nämlich bloß einem subjektiv-persönlichen Prinzip der Handlung, sondern nur nach einer verallgemeinbaren Maxime zu handeln. Wie oben bereits gesehen, macht nach der Goldenen Regel mein eigener Wunsch bzw. eigenes Wertbewusstsein den Maßstab für eine gute Handlung gegenüber einem anderen aus. Mit anderen Worten: Was ich will, dass man mir tue, das soll ich gegenüber einem anderen tun, und ebenfalls was ich nicht will, dass man mir tue, das soll ich gegenüber einem anderen nicht tun, ist der Maßstab, d.h. „mein Wunsch“ für die gute Handlung. Vergleicht man jedoch diesen Maßstab mit dem des oben zitierten „allgemeinen Gesetzes“, so erkennt man: wenn mein Wunsch verallgemeinert werden kann, d.h. falls „was ich will, dass man mir tue“ oder „was ich nicht will, dass man mir tue“ widerspruchslos verallgemeinert werden kann, kann die dem Wunsch entsprechende Handlung gut sein. Wie wir bereits oben bei Wolff gesehen haben, muss man nachprüfen, ob man „rechtmäßiger Weise“ (NR 45, § 73) etwas wünscht und verabscheut. Darüber hinaus, um mit dem Maßstab des kategorischen Imperativs – und zwar mit dessen Formel der Verallgemeinerung – übereinzustimmen, muss der Wunsch nach dem Prinzip der Verallgemeinerung korrigiert werden.
Was hier mit „Widerspruch“ gemeint ist, ist das Problem, dass durch die. Verallgemeinerung der Maxime, bzw. des Wunsches dieser Maxime an sich, dieser Wunsch an sich nicht mehr existieren kann; oder dass das Subjekt dadurch irgendeine Kompensation ertragen muss, wie z.B. beim lügenhaften Versprechen oder der Ablehnung, den anderen zu helfen. Falls das lügenhafte Versprechen verallgemeinert wird, so kann niemand ein Versprechen glauben und Vertrauen schenken, und konsequenterweise kann ein Versprechen sehr wahrscheinlich überhaupt nicht mehr existieren. Dies mag wohl einen entscheidenden Einfluss auf die menschliche Gesellschaft ausüben. Der Grund für die Kantische Betonung auf das Verbot der Lüge, das unter sich auch Notlüge subsumiert, liegt m. E. darin, dass die Lüge bzw. das lügenhafte Versprechen die Ordnung der Gesellschaft wesentlich zerstört. Unser Vertrauen gründet sich vor allem auf die Einhaltung des Versprechens, deshalb kann die Lüge das System unseres Vertrauens zum Einsturz bringen. Was den zweiten Fall, d.h. die Maxime „anderen nicht zu helfen“ angeht, erkennt man, dass wenn diese Maxime verallgemeinert wird, man zustimmen muss, dass niemand „mir“ bei Not und Gefahr helfe. Der Wunsch, anderen nicht zu helfen bzw. sie nicht zu unterstützen, widerspricht deshalb dem Wunsch, bei eigener Not Hilfe von anderen zu bekommen.
Was die Zweckformel des kategorischen Imperativs angeht, lässt sich erkennen, dass die Menschheit in der Person einen speziellen Wert, nämlich einen Wert von „Zweck an sich“ (GMS 429) unter sich subsumiert. Nach Kant liegt der Menschheit ein unvergleichbarer Wert, d.h. eine „Würde“ (GMS 400) zugrunde. In diesem Zusammenhang erinnert man sich an die „Achtung fürs Gesetz“ (ibid.), welches hier das moralische Gesetz heißt. Man fragt sich, wie diese „Achtung fürs Gesetz“ mit der „Würde“ der Menschheit zusammenhängt. Kant ist der Ansicht, was als gesetzgebend betrachtet wird, wird ebenfalls als Zweck an sich betrachtet (vgl. GMS 434). Darüber hinaus lässt sich schließen, dass das Subjekt der Selbstgesetzgebung als Zweck an sich zu betrachten ist, und in diesem Subjekt – hier in der Menschheit, etwas allgemeinem und abstraktem innerhalb des einzelnen Menschen – tritt ein allgemeines Gesetz – hier ein moralisches Gesetz – auf. So gesehen ist mit dem Ausdruck „Achtung fürs Gesetz“ ebenfalls die Achtung fürs gesetzgebende Subjekt zu verstehen, welches hier zugleich die Menschheit genannt wird. Mit anderen Worten: was für das moralische Gesetz gilt, gilt ebenfalls für dieses gesetzgebende Subjekt, wobei es nichts als die Menschheit in der Person ist.
In dieser Wert-Setzung betreffs der Menschheit in der Person als des gesetzgebenden Subjekts sieht man die Möglichkeit, ein neues Schema der Reziprozität zwischen „mir“ und einem anderen einzusetzen. Nach dieser Wert-Setzung sieht man nicht nur in „sich“, sondern auch in einem anderen (und in jedem anderen) einen unvergleichbaren Wert, d.h. einen Zweck an sich, der einem jeden gesetzgebenden Subjekt zugrunde liegt. Aufgrund dieses unvergleichbaren Werts (eines jeden anderen Menschen) darf ich ihn nicht einfach pragmatisch behandeln, sondern muss ihn als mit mir gleichwertiges zwecksetzendes Subjekt respektieren. Darüber hinaus wird aus dieser Hinsicht eine nicht pragmatische Reziprozität zwischen „mir“ und einem anderen erfordert. Nach Kant: „Alle Maximen haben nämlich … eine Materie, nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: daß das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse“ (GMS 436). In diesen Sätzen wird gefordert, unter den vielen verschiedenen Materien der Maximen nur das vernünftige Wesen (als ein Material) hervorzuheben und nur es für den Zweck an sich zu halten, und zugleich alle andere Materien, die anderen Zwecke der Maximen als relativen Wert nachzusetzen.
Falls bei der „Menschheit“ und dem in ihr erwartenen gesetzgebenden Subjekt kein unvergleichbarer Wert vorausgesetzt wird, kann die Goldene Regel als eine Klugheitsregel oder eine pragmatische Handlungsregel verstanden werden, weil es nicht hinreichend beantwortet werden kann, ob nicht der Reziprozität das eigene Interesse zugrunde liegt. Es mag wohl sein, sich aufgrund des eigenen Interesses in einen anderen einzufühlen. Nicht nur beim politischen oder wirtschaftlichen Handeln, sondern auch bei jedem wichtigen zwischenmenschlichen Handeln braucht man Wissen und Verständnis über das Gefühl und den Willen des anderen, um in der gegebenen Situation vorzügliche Entscheidungen treffen zu können. Der Grund für die „Einfühlung“[8, S. 79ff.] mag wohl z.B. darin liegen, dass man den anderen unterstützen will oder dass man ihm helfen will. Jedoch kann man durch die äußerlichen Handlungen nicht beweisen, dass man aus altruistischem Grund entschieden habe zu handeln und es nicht vielmehr mit dem eigenen Interesse zu tun habe.
Reflektiert man über den Grund der eigenen Handlungen, so erkennt man, dass die meisten Gründe in eigenem Interesse liegen und dass man nur bei seltenen Gelegenheiten aus altruistischem Grund handelt; etwa bei der Hilfe für Opfer von Erdbeben oder sonstigen Naturkatastrophen. Es ist festzustellen, dass die Einfühlung in einen anderen eine Voraussetzung ist, um gegenüber einem anderen vorzüglich zu handeln, jedoch kann man sich nicht beweisen, dass ihr kein eigenes Interesse zugrunde liegt. Kant formuliert, dass die Goldene Regel aus dem Prinzip der Moral, d.h. aus dem kategorischen Imperativ „abgeleitet“ (GMS 430) ist. Es lässt sich schließen, dass nach Kant der kategorische Imperativ das grundlegendste Prinzip der Moral sei und erst aufgrund dieses Prinzips die Goldene Regel für sich moralischen Wert erwirbt. Die Einsicht, die Menschheit in jeder Person für einen Zweck an sich zu halten, ändert den Wert eines jeden anderen, und darüber hinaus den Inhalt der Reziprozität zwischen „mir“ und einem jeden anderen.
Schlussbemerkung
Die Goldene Regel, die im Prinzip als eine Art der Reziprozität der Handlung zwischen „mir“ und einem anderen zu verstehen ist, kann selbst nicht hinreichend erläutern, dass sie keine Klugheitsregel ist. Es kann nicht abgelehnt werden, dass dem Befehl „Was du verabscheust, tue keinem anderen an“ der hypothetische Satz „falls du dein Interesse nicht geschädigt sehen möchtest“ zugrunde liegt. Der Grund für die Befolgung der Goldenen Regel mag wohl die Bewahrung des eigenen Interesses sein.
Was in der Reziprozität der Goldenen Regel fehlt, ist m. E. die Einsicht, sowohl in „mir“, als auch in einem jeden anderen einen unvergleichbaren Wert zu sehen, welchen Kant in der Zweckformel des kategorischen Imperativs erläutert hat. Durch diese Einsicht ändert sich die Qualität der Reziprozität, und zwar dahingehend, dass man einen anderen und sein Interesse nicht mehr nachsetzen darf. In dieser erneuten Reziprozität wird von „mir“ gefordert, die Menschheit in der Person, nämlich das gesetzgebende Subjekt in der Person eines jeden anderen, als Zweck an sich zu halten. Woraus sich erkennen lässt, dass die Goldene Regel in dieser Voraussetzung nicht mehr eine Klugheitsregel, sondern eine moralische Handlungsregel wird.
Bibliographie
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- Wolff, Christian. Grundsätze des Natur- und Völkerrechts(NR), Halle 1754 (Neudruck: Hildesheim u.a. 1983, in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. u. Bearb. V. H.W.Arndt u.a. I. 19).
Der Text dieses Vortrages wurde im Sammelband „Kant zwischen West und Ost“ (2005) veröffentlicht:
Kawamura, Katsutoshi. Kants Kritik an der Goldenen Regel// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.2. Kaliningrad, 2005. S. 179 – 186.