Hiroo Nakamura. Kant in Japan

 

Prof. Hiroo Nakamura (Nagano, Japan)

Prof. Hiroo Nakamura (Nagano, Japan)

1. Japan in Kants Werken

Kant kannte Japan durch die Bücher, die damals auf den Schriften von Engelbert Kämpfer (Arzt und Forschungsreisender, 1651-1716) beruhend verfasst waren. Dieses kleine Inselreich im Fernen Osten behandelte Kant in seinen Vorlesungen über die physische Geographie. Historiker geben als Quellen an: History of Japan (trans. by J. G. Scheuchzer, London 1727), Geschichte und Beschreibungen von Japan (Chr. Wilh. Dohm, 2 Bde. Lemgo 1777-1779), zweite Auflage: Abgekürzte Geschichte und Beschreibung des japanischen Reiches (Frankfurt und Leipzig 1783), Pierre C. LeJeune: Kritische und philosophische Bemerkungen über Japan und die Japaner (Breslau 1783). Kants ausführliche Beschreibungen von Japan befinden sich in der von Helmuth von Glasenapp (Indologe, 1891-1963) herausgegebenen Physischen Geographie (Kant und die Religionen des Ostens, Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr. Kitzingen-Main, 1954, S. 107-118). Sonst weiß man nicht, wie sich Japan im Spiegel Kants reflektierte. Wie würde Kant heute dieses Land sehen, das trotz der harten Erfahrung des Zweiten Weltkriegs jetzt in der Tat danach strebt, Kants Grundgedanken der Moral und der Politik zu realisieren?

 

2. Kant in Japan früher und heute

Erst im 19. Jahrhundert lernten Japaner Kant und seine Philosophie kennen. Mit und nach der Meiji-Restauration (1868) begannen sie, aktiv die europäische Kultur sowie ihr Gesellschaftssystem zu studieren, um sie sich schnell zu eigen zu machen. Kant war in Japan immer einer der wichtigsten Philosophen, ja sein Name war sozusagen ein Synonym für „Philosoph“. Die richtige Kantforschung in Japan begann etwa 1887. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhren japanische Studenten und Gasthörer viele Einflüsse durch die Neukantianer sowohl der Marburger als auch der Südwestdeutschen Schule. Recht schnell meisterten Japaner mit Kant das „Philosophieren Lernen“. Seit etwa den dreißiger Jahren erschienen originelle (aber leider auf Japanisch geschriebene) philosophische Schriften, die mit Kant den japanischen Geist wie die Grundgedanken des japanischen Buddhismus behandelten. Auch unter dem Einfluss internationaler Geistesströmungen, wie idealistische, materialistische, hegelianische, marxistische, phänomenologische oder existentialistische Philosophie blieb Kant doch immer  der Polarstern. Die harte Erfahrung des Zweiten Weltkriegs regte die Forscher dazu an, Moral und Frieden mehr zu behandeln und mit Kant tiefer darüber nachzudenken. Seit 1995 wandte man sich auch der Kritik der Urteilskraft zu, d. h.  Fragen nach der moralischen Teleologie, nämlich einerseits der Frage  nach dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit für jedes Subjekt (das Besondere), andererseits nach dem letzten Zweck des Menschen oder dem Wert des Lebens, damit der Mensch es ermöglichen soll und kann, sich selbst zu kultivieren, um Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit, Sollen und Können zu verbinden.

Die Publikationslage der japanischen Übersetzungen der Werke Kants kann beweisen, wie sehr sich Japaner bis heute mit Kant anfreundeten. Im 20. Jahrhundert hat man in Japan schon zweimal unter Aufbietung aller japanischen Spezialisten Kants sämtliche Werke in 18 Bänden übersetzt und veröffentlicht (Tokyo: Iwanami 1926-1939 und Tokyo: Risosha 1965-1988). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde eine neue Übersetzung angefertigt (in 22 Bänden plus ein Nebenband, Tokyo: Iwanami). Die Übersetzungen der einzelnen Werke sowie die Studien über Kant sind unzählbar. Was z. B. den Nachdruck der Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft angeht (Iwanami-Taschenbücher), so wurde sie 1961/1962 in drei Teilen veröffentlicht und der erste Teil bis 2013 schon 65 Mal nachgedruckt. Das Taschenbuch der Kritik der praktischen Vernunft wurde 1979 veröffentlicht und bis 2012 schon 37 Mal nachgedruckt. Die Kritik der Urteilskraft wurde 1964 in zwei Teilen veröffentlicht und der erste Teil bis 2010 schon 33 Mal und der andere bis 2011 schon 27 Mal nachgedruckt. Das Taschenbuch Zum ewigen Frieden wurde 1985 veröffentlicht und bis 2013 schon 44 Mal nachgedruckt. Schon an diesen Zahlen kann man wohl sehen, wie gern Kant in Japan gelesen und studiert wird, und wie wichtig für Japaner Kants Forderung des „Philosophieren Lernens“ ist. 1997 wurde ein solides japanisches Kant-Lexikon [Kanto Jiten] (Tokyo: Koubundou) veröffentlicht.

Die Japanische Kant-Gesellschaft, die 1976 gegründet wurde und zur Zeit über 300 Mitglieder hat, gibt seit 2000 jährlich die Japanischen Kant-Studien [Nihon Kantkenkyu] (Chiba: Risosha) heraus. Diese Gesellschaft besitzt  zwar eine japanische Homepage, aber leider noch keine deutsche oder englische Seite, während „The Philosophical Association of Japan“ in ihrer Homepage schon eine englische Seite hat. Aber es gibt eine andere bemerkenswerte Forschungsgruppe, welche Kant-Forschungsgruppe zu Tokyo heißt. Sie organisierte 1987 ihre erste Versammlung und lässt seit 1989 jährlich ihr Organ Aktuelle Kant-Forschungen erscheinen [Gendai Kantkenkyu] (Bd. 1-2 Tokyo: Risosha, Bd. 3 Kyoto: Koyo-Shobo). Diese Gruppe hat  ihre Homepage mit einer deutschen Seite ausgestattet, in der die deutschsprachigen Forscher im Ausland aktuelle Tendenzen der japanischen Kantforscher beobachten können (http://phs.i.hosei.ac.jp/kant_ken/deutsch.html). Übrigens hatten Japaner seit langem das Hindernis der Fremdsprachen zu überwinden. Ohne eigene Gedanken in Fremdsprachen zu äußern, bleiben Japaner in der Gedankenwelt eher isoliert. Aber die durch rasche Fortschritte globalisierte Welt hindert Japan heute daran, noch länger sozusagen zu den Galapagosinseln der Geisteswelt zu gehören. In diesem Sinne kann man sagen, dass die oben genannte deutsche Seite der Kant-Forschungsgruppe zu Tokyo epochal ist. Man muss hinzufügen, dass die japanischen Forscher seit dem Ende der sechziger oder siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts langsam mehr Vorträge auf internationalen Konferenzen halten und in ausländischen Zeitschriften veröffentlichen. Das ist eine erfreuliche Tendenz nicht nur für Japan selbst, sondern auch für andere Forscher im Ausland. Denn der Grundgedanke des japanischen Geistes muss wohl ein Schatzkästchen sein, in dem sie eine fremde Weisheit entdecken können.

 

3. Kant in Japan morgen

Was ist nun die aktuelle Aufgabe der Kantforscher in Japan? Ohne „den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen“, handelt es sich um zwei Fragen: diejenige nach der Behandlung der Katastrophe von Fukushima 2011 und diejenige nach der politischen Bewegung der Verfassungsänderung in Japan seit 2007 und speziell 2012. Japans Zukunft hängt eigentlich einzig und allein davon ab, ob Industriekreise und Techniker sowie Politiker Kants Sittenlehre, genauer den kategorischen Imperativ des moralischen Gesetzes in jedem Herzen, im Ernst befolgen wollen oder können. Die japanischen Kantforscher sind also dafür wirklich verantwortlich, um einflussreichen Menschen in Japan ihre moral-teleologische Bestimmung, welche diejenige des ganzen Menschen selbst sein soll, bewusst zu machen und ihr Denken nach dem allgemeinen moralischen Gesetz zu orientieren. Hier sind zwei neue Arbeiten, in denen sich „Kant in Japan morgen“ am deutlichsten zu spiegeln scheint: Das Eine ist mein Buch Für den Frieden (Nordhausen: Traugott Bautz 2012) und das Andere mein Vortrag, „Technik und Zukunft der Menschheit – Die Bedeutung der Aufklärung des 21. Jahrhunderts“, der bei den XI International Kant Readings: «Kantian Project of Enlightenment Today» (Immanuel Kant Baltic Federal University, Kaliningrad, April 2014) gehalten wird.