Helmut Wagner. Das Kant Dilemma — Sein “Weltstaat“. Wie lässt sich heute eine Weltgemeinschaft denken?

Im Zusammenhang mit dem Konferenzthema des Kaliningra­der Kant-Symposiums finde ich, um damit zu beginnen, zwei As­pekte erstaunlich. Einmal den Umstand, dass die kleine Schrift von Immanuel Kant “Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahre 1795, also von vor mehr als zweihundert Jahren, immer wieder erneut für Ak­tualität sorgt. Das spricht jedenfalls dafür, dass er damit ein Thema angesprochen hat, das einigermaßen zeitlos ist.[1] Und zum anderen hat sich Kant, der vor zweihundertachtundachtzig Jahren in Königsberg geboren wurde, damit als Kosmopolit ausgewiesen. Es ist, wenn ich recht sehe, unter Philosophen und Wissenschaftlern nach Platon (428—348 v. Chr.) und Aristoteles (384—322 v. Chr.) nicht allzu häufig vorgekommen, dass sie sich mit der zukünftigen politischen Weltordnung beschäftigt haben. Mir fallen nur gerade drei Namen von Personen ein, die sich über die diesbezügliche Zu­kunft der Menschheit intensiv Gedanken gemacht haben: Imman­uel Kant (1724—1804), Karl Marx (1818—1883) und Max Weber (1864—1920). Seltsamer Weise sind sie alle Deutsche.

Ich will wie folgt vorgehen: Ich werde zunächst zeigen, was für Kenner von Kant freilich selbstverständlich ist, dass er die Schaf­fung eines “Weltstaates“, um auf diese Weise den “ewigen Frieden“ unter den Völkern zu garantieren, mit guten Gründen strikt abgelehnt hat. Sodann werde ich zweitens darlegen, womit ich ebenfalls nichts Neues sage, dass er eine “Weltrepublik“ aus plausiblen Gründen für nicht realisierbar gehalten, obwohl er sie theoretisch als die Lösung des Friedensproblems angesehen hat. Drittens habe ich vor, sein Plädoyer für einen “Friedensbund der Staaten“ bzw. für einen Völkerbund nachzuvollziehen, was von nicht wenigen als seine größte und folgenreichste politologische Leistung angesehen wird. Schließlich und endlich aber werde ich die These vertreten und begründen, dass wir heute — ja, erst heute! — in der Lage sind, Kants eigentliche Intention wahrzumachen, eine friedenssichernde Weltgemeinschaft zu projektieren. Sie in der Gestalt einer “Welt-Union“, wie ich sie nenne, nicht nur zu denken, sondern dazu beizutragen, dass sie in der fernen Zukunft auch gestiftet wird, ist mein Bestreben.

 

I. Der nicht wünschenswerte Weltstaat

 

Warum hat Kant wie auch andere seiner Zeitgenossen, etwa der Abbé Saint-Pierre (1658—1743) und Jean-Jacques Rousseau (1712—1778), in einem Weltstaat, wenn er mit der Monopolis­ierung aller Macht verbunden wird, keine ausreichende Garantie für den Frieden der Welt gesehen? Weil dieser zwar in der Lage wäre, für Frieden zu sorgen, aber zugleich doch die “Absonderung der Staaten“ verhindern würde, welche für das Wohl der Menschheit gemäß dem Kantschen Grundsatz unerlässlich ist: “Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für die Gattung gut ist: sie will Zwietracht“(Kant, 1784, S. 21). In seinen eigenen Worten lautet der entsprechende Passus wie folgt: Die Existenz von souveränen Staaten, die unvermeidlicher Weise kriegerische Konflikte zur Folge hat, ist, „nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die an­dere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht; weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten aus­gerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt“ (Kant, 1795, S. 367).

Kant hat dem unmittelbar hinzugefügt, dass es wohl wahr sei, dass ein jeder große Staat danach strebe, die ganze Welt zu beherr­schen und auf diese Weise für Frieden in seinem Sinne zu sorgen. Aber, sagt er: „Die Natur will es anders“ (Kant, 1795, S. 367). Sie bediene sich “zweier Mittel, um Völker von der Vermischung ab­zuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen.“ Es käme darauf an, nicht der Freiheit durch den “Despotismus“ eines Staates einen “Kirchhof“ zu bereiten, sondern durch den „lebhaftesten Wetteifer“ aller gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte zu einem Frieden des “Einverständnisses“ zu gelangen[2] (Kant, 1795, S. 367).

Nebenbei gesagt, diese Argumentation von Kant ist, wie ich finde, angetan, zu erklären, weshalb alle bisherigen Großreiche in der Weltgeschichte keine Dauer gehabt haben. Sie sind aus der Übermacht eines Staates und der Ohnmacht anderer, zumeist nicht staatlich organisierter Gemeinschaften entstanden, jedoch an den Folgen ihrer Überkonzentration und der Monopolisierung aller Macht früher oder später wieder zugrunde gegangen. In der Sprache von Kant haben sie der “Absonderung“ keinen für die freie Entwicklung ihrer Bürger genügenden Raum gegeben. Das hat früher oder später zu ihrem Untergang geführt.

 

II. Die nicht erreichbare Weltrepublik

 

Es besteht kein Zweifel daran, dass Kant eine sehr konkrete Vorstellung davon hatte, wie der Frieden unter den Staaten am be­sten sicherzustellen wäre. Das geht aus seiner folgenden Aussage hervor: „Für Staaten, im Verhältnis unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden“ (Kant, 1795, S. 357). Dem aber hat er hinzugefügt: Da die Völker indes „durchaus nicht wol­len“, das zu tun, „was in thesi richtig ist“, so könne „an die Stel­le der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verlo­ren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abweh­renden, bestehenden, und sich immer ausbreiten­den Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“ (Kant, 1795, S. 357).

An dieser Feststellung sind meines Erachtens drei Dinge be­denkenswert. Erstens, dass die Einlösung des Kantschen Frieden­sprojektes eigentlich nur durch die Schaffung einer Weltrepublik möglich ist, welche allein in der Lage sein würde, einen permanen­ten Kriegszustand durch einen dauerhaften Rechtszustand zu erset­zen. Da die Völker aber zweitens nicht willens sind, auf ihre Sou­veränität zu verzichten, bleibe in der Praxis gar nichts anderes als eine Notlösung übrig, nämlich die Schaffung eines Völkerbundes. Dieser aber werde drittens nicht verhindern können, dass es auch weiterhin, wenn auch in geringerem Maße als zuvor, zum Aus­bruch von Feindseligkeiten kommen wird. — Halten wir davon im Moment nur so viel fest, dass Kant für die Notlösung eines Völk­erbundes deshalb plädiert hat, weil er den Staaten nicht zugemutet hat, dass sie auf ihre Souveränität freiwillig verzichten würden. Dabei ist aber ja doch auch nicht zu übersehen, dass er von einem solchen Verzicht nach dem, was er über den Weltstaat gesagt hat, selbst nicht Gutes erwartet hat. Auf das damit angesprochene Prob­lem der staatlichen Souveränität als dem “casus knacksus“, also dem Prüfstein einer wirklichen Friedensordnung im Kantschen Sinne, wird sogleich noch einmal zurückzukommen sein.

 

III. Der Völkerbund als die bestmögliche Lösung

 

Dahin, zur Schaffung eines Völkerbundes im Kantschen Sinne, ist es denn ja auch tatsächlich in Gestalt des 1920 gegründeten Genfer Völkerbundes und der 1945 in San Francisco gegründeten, heute in New York ansässigen Vereinten Nationen gekommen, de­nen gegenwärtig 193 Staaten als Mitglieder angehören. Für den wenig rühmlichen Genfer Völkerbund und auch für die nicht min­der eine eher nebensächliche Rolle spielenden New Yorker Verein­ten Nationen kann wohl gelten, was Oliver Eberl kürzlich von ih­nen gesagt hat: Auch im Hinblick auf sie erweise sich „das kanti­sche Festhalten an der universellen Ordnung des freiwilligen Völ­kerbundes und seiner langfristig befriedigenden Wirkung als die wohl noch immer realistischste Option, den Frieden zu be­wahren“ (Eberl, 2004, S. 210). Es fragt sich allerdings, ob ein Völkerbund als Organisation, der alle souveränen Staaten der Erde angehören, wirklich das letzte Wort im Hinblick auf die Schaffung einer effek­tiven Friedensordnung ist — oder ob dafür nicht eine andere Orga­nisationsform, die über das hinausgeht, was für Kant allein reali­sierbar erschien, die aber heute im Bereich des Möglichen liegt, geeigneter ist.

 

IV. Voraussetzungen einer möglichen Weltgemeinschaft

 

1. Die Teilung der staatlichen Souveränität

 

Lassen Sie mich, bevor ich für eine neue Organisationsform der Weltgemeinschaft plädiere, eine in diesem Zusammenhang entscheidende Vorfrage klären. Könnte es nicht gut sein, dass es der Souveränitätsproblematik ähnlich wie der Staatsproblematik ergeht? Der Staat als der Monopolist aller politischen Macht ist dadurch “domestiziert“ worden, dass die staatliche Gewalt in drei verschiedenen Gewalten, in die legislative, die exekutive und die richterliche, aufgeteilt worden ist, die sich verfassungsrechtlich le­gitimiert gegenseitig kontrollieren, aber den Staat keineswegs um seine Sicherheits- und Ordnungsfunktionen gebracht haben. Ließe sich nicht auch denken, dass mit der staatlichen Souveränität etwas Ähnliches geschieht? Dass das Souveränitätsmonopol des Staates dadurch “zivilisiert“ wird, dass es genauso wie das Gewaltmonopol geteilt wird? Dieses Mal nicht horizontal zwischen verschiedenen Formen der Gewaltausübung, sondern vertikal zwischen ver­schiedenen Ebenen des Souveränitätsvollzugs? Etwa zwischen einer kommunalen, einer staatlichen und einer kontinentalen Ebene, von denen jede ihre Eigenständigkeit besitzt und de­mentsprechend am Vollzug der Souveränität direkt und unmittelbar beteiligt ist, ohne dass sie dadurch ihre Funktion der Kompetenz-Kompetenz oder Letztentscheidung verliert? Für die Verteilung der Souveränität auf verschiedene Ebenen gibt es neuerdings den Be­griff der “Subsidia­rität“. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Entscheidungsbe­fugnisse dort angesiedelt werden, wo sie sinnvol­ler Weise am wirksamsten wahrgenommen werden können.

Eine solche Organisationsform lässt sich nicht nur denken. Nein, sie besteht bereits; wenn auch in Gestalt der Europäischen Union erst noch in einer unvollständigen Form. Das Besondere und Neuartige an der EU ist ja doch gerade, dass sie kein Staat ist und auch gar kein Staat sein und auch nicht werden will. Die EU hat ihre Befugnisse, die sie wahrnimmt, nicht aus eigenem Recht, son­dern aufgrund “begrenzter Einzelermächtigungen“, wie es im Art. 5 des Lissabon-Vertrages statuiert ist. Die “Herren der EU-Verfas­sung“ sind nämlich dem Lissabon-Vertrag zufolge die EU-Mitg­lied­staaten. Sie haben die EU gegründet, sie und niemand an­derer entscheiden über ihr weiteres Schicksal.

 

2. Die Vor- und Nachteile eines subsidiären Staatenver­bundes

 

Es liegt auf der Hand, sich zunächst einmal darüber Klarheit zu verschaffen, welches die Vor- und die Nachteile einer solchen sub­sidiären Organisationsform sind, wie die EU sie hat. Diese, die EU, ist einem Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts zufolge als ein “Staatenverbund“ deklariert worden, was neben dem bekannten “Staatenbund“ und dem “Bundesstaat“ eine dritte Kate­gorie staatlicher Gemeinschaften darstellt. Die Vergewisserung dessen, was diese neue Gemeinschaftsform zu bieten hat, soll in notwendiger Kürze im Folgenden im ausschließlichen Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geschehen. Erst danach werde ich mich dem zentralen Problem der “Verrechtlichung“ der zwischenstaatlichen Beziehungen der EU-Mitgliedstaaten zuwenden, welche durch ihre Integration bzw. ihre “Vergemeinschaftung“ erfolgt ist.

Als den größten verfassungsrechtlichen Schwachpunkt eines Staatenverbundes wie der EU kann — neben vielen anderen poli­tischen Ungereimtheiten, wie etwa der spezifischen Identitäts- und Legitimitätsfrage — die überaus komplizierte Realisierung von Ver­fassungsreformen angesehen werden. Für eine jede Kompe­tenzerweiterung der EU bedarf es nach Art. 5 des Lissabon-Vertrages einer “begrenzten Einzelermächtigung“, die, da sie nur durch einen neuen Europa-Vertrag zu erhalten ist, die Zustimmung aller Mitgliedstaaten sowie die entsprechenden Ratifikationen ihrer Parlamente, oder sogar Referenden einzelner Völker, benötigt. Das ist in jedem Fall ein äußerst umständliches Verfahren; wenn es nicht gar einem “liberum veto“ gleichkommt, weil die Stimme auch nur eines einzigen Mitgliedes genügt, um eine jede Reform zu vereiteln.

Daneben haben sich die EU-Mitgliedstaaten allerdings noch einen anderen Weg einfallen lassen, um geltende Verträge zu re­formieren. Im Rahmen einer “verstärkten Zusammenarbeit“ ist die Möglichkeit eröffnet worden, dass ein Teil der Mitgliedstaaten, mindestens jedoch neun, gemäß Art. 20 des Lissabon-Vertrages Beschlüsse über eine engere Zusammenarbeit fassen können, dass diese aber, um in Kraft zu treten, nach Art. 329 des “Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ die einstimmige Zustimmung des Rats bedürfen. Bisher ist auf diese Weise nur das Schengener Abkommen abgeschlossen worden, durch das der “schritt­weise Abbau der Grenzkontrollen an den gemeinsamen Gren­zen“ vereinbart wurde. Dieses Verfahren könnte aber, wie ich finde, durchaus ein Modell dafür sein, wie die schwierig zu errei­chende Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten bei Vertragsreformen umgangen werden kann.

Im Hinblick auf die Vorteile, in deren Genuss Staaten durch ih­re Mitgliedschaft in der EU gelangen, möchte ich an dieser Stelle nur drei, mir wichtig erscheinende Errungenschaften nennen. Da ist erstens das nicht gering einzuschätzende Faktum, dass den einzel­nen Staaten durch ihre Mitgliedschaft in der Union automatisch ih­re Sicherheit und Eigenständigkeit garantiert wird. Darüber brau­chen sie sich fortan keine Sorgen mehr zu machen. Daran sind alle Mitglieder im gleichen Maße interessiert, und gemeinsam sind sie stark genug, dieses Recht auch durchzusetzen. Vor allem in der Vergangenheit leidgeprüfte Völker werden sich in diesem Staaten­verbund wie in “Abrahams Schoß“ fühlen. — Zweitens profitieren die Mitglieder einer solchen Union davon, dass sie einem wirt­schaftlichen Großraum angehören, dass sie, wenn sie das wol­len, an einer Weltwährung teilhaben können und dass sie, wenn sie zu den wirtschaftlich schwächeren Ländern zählen, finanziell unter­stützt werden. Kommt hinzu, dass sie an der Innen- wie Außenpoli­tik der Union gleichberechtigt mitwirken. Das hat in­sofern einen besonderen Effekt, als die Union ihre Kompetenzen nicht nach ei­genem Ermessen und Belieben ausweiten kann. Was die Großstaa­ten dieser Welt, auch die föderalen, in aller Regel tun, sich immer mehr Kompetenzen, vermehrte Macht und größere fi­nanzielle Mit­tel anzueignen, das wird der Union verwehrt. Sie liegt an der Leine ihrer Mitgliedsstaaten. Sie bestimmen ihre Kompe­tenzen, ihre Macht und ihre Finanzen. Imperiale Gelüste der Union gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist möglicherweise ihre segensreichste Funktion. — Schließlich, drittens, haben die Mit­gliedsstaaten ge­mäß Art. 50 des Lissabon-Vertrages das Recht, aus der Union aus­zutreten, wenn ihre Interessen mit der Mitgliedschaft nicht mehr zu vereinbaren sind. Die Union ist demnach kein Kerker, dem zu ent­fliehen sie nicht mehr in der Lage sind. Die Redensart: “mitgefan­gen, mitgehangen“ gilt für sie nicht. Ihr Ein­tritt ist freiwillig, und ihr Austritt steht ihnen jederzeit frei.

 

3. Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen

 

Ich bin hier nur deshalb auf die EU näher eingegangen, weil sie als eine nicht-staatliche Gemeinschaft ein Muster dafür abgibt, wie eine Welt-Union konzipiert werden kann, die nicht mit dem Makel der Souveränität, also alle Kompetenzen an sich zu ziehen, ausges­tattet ist. Das war es doch gerade, was Kant davon abgehalten hat, auf einen Weltstaat als eine Friedensorganisation zu setzen: dessen alleiniges Machtmonopol. Das schreckte ihn zu Recht ab. Er aber konnte sich jedoch, weil er vom Staat her dachte, gar nicht vorstel­len, dass eine nicht-staatliche Organisation den Weltfrieden stiften könnte. Aufgrund der Erfahrungen mit der EU sind wir dazu aber, wie ich vermute, in der Lage.

Dafür ist es allerdings notwendig, sich von der “westfälischen Ordnung“, die nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriege im 17. Jahrhundert in Europa etabliert und dann weltweit praktiziert wurde, zu verabschieden. Ihr zufolge galt, was jahrhundertelang als sakrosankt angesehen wurde, dass eine politische Gemeinschaft sich nur durch ihre Souveränität als Staat qualifiziert und als ein solcher satisfaktionsfähig ist. Erst durch die Gründung der EU sind wir eines Anderen belehrt worden. Seither wissen wir, dass eine Aufteilung der Souveränität möglich ist und, was vielleicht noch wichtiger ist, dass auch und gerade eine nicht-staatliche Organisa­tion wie die EU durch die “Verrechtlichung“ ihrer supranationalen und internationalen Beziehungen eine Friedensorganisation par ex­cellence darstellt. Sie, die Aufteilung der Souveränität und die Ver­rechtlichung der staatlichen Beziehungen, sind die Signa einer “post-westfälischen Ordnung“.

Kant hat auf eine Verrechtlichung der Innenpolitik gedrungen und auf ihr bestanden, weil er darin die einzige Möglichkeit gese­hen hat, die egoistischen Triebe der Menschen und Völker zu bändigen, sie zu rationalisieren und produktiv zu machen, sich nicht gegenseitig zu bekriegen und umzubringen. Der Rechtsstaat ist aber erst im Verlauf eines längeren historischen Prozesses zustande gekommen: durch die Teilung der Gewalten, durch die darauf folgende staatliche Gesetzgebung und dann auch noch gek­rönt durch die Demokratisierung, wodurch die “Herrschaft des Volkes“ statuiert und legalisiert wurde. Im Hinblick auf eine Ver­rechtlichung der Beziehungen zwischen Staaten hat Kant al­lerdings, wie ich finde, verständlicher Weise aber doch vorzeitig das Handtuch geworfen. Das hat er getan, weil er an der Sou­veränität der Staaten wie gebannt festgehalten hat. Deshalb hat er die Verrechtlichung auch der außenpolitischen staatlichen Bezie­hungen für unrealisierbar gehalten.

Heute haben wir jedoch Grund zu der Annahme, ja, zu der Gewissheit, dass, als im Jahre 1951 sechs Staaten Westeuropas mit der Gründung der Montan-Union den ersten Schritt zu ihrer Inte­gration unternommen haben, auch der erste Schritt zur Verrecht­lichung ihrer außenpolitischen Beziehungen getan worden ist und dass diese mit jedem weiteren Europa-Vertrag, den sie inzwischen abgeschlossen und mit dem sie sich erweitert haben, vermehrt wor­den ist. Der Hintergrund dieses Vorganges war allerdings, dass die­se Staaten aufgrund der Erfahrungen, die sie im gerade zu Ende ge­gan­genen Zweiten Weltkrieg gemacht hatten, zu der Über­zeu­gung ge­langt waren, dass sie fortan nicht mehr vereinzelt, son­dern inter­na­tional nur noch gemeinsam handlungsfähig sein würden. Dass sie an ihrer so geschaffenen Gemeinschaft festgehal­ten und sie ent­sprechend ausgebaut haben, hat sich für sie aus­gezahlt.

Es ist Otfried Höffe gewesen, der schon im Jahre 1996 darauf hingewiesen hat, dass auch die Verrechtlichung einer Welt-Union nicht auf einen Schlag zu verwirklichen ist. „Nötig ist es“, hat er geschrieben, „die entsprechenden Konflikte Thema für Thema, al­so in vielen kleinen Schritten, in durchsetzungsfähige Rechts­gestalten zu überführen. Dabei wird keine homogene Zentralgewalt angestrebt, sondern eine vielfach gestufte Souveränität. Vielleicht ist die republikanische (bzw. rechtsstaatliche, H. W.) Ordnung re­publikanisch verfasster Staaten (bzw., wie ich sage, verfassungs­rechtlicher Kontinental-Unionen, H. W.), die Weltrepublik (im Sin­ne Kants, H. W.), nichts anderes als der Inbegriff all dieser nach und nach errichteten Rechtsgestalten“ (Höffe, 1996, S.170). Mit der Annahme, dass auch eine Verrechtlichung der gesamten Welt­ge­meinschaft unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich ist, bin ich offenbar mit Kant nicht ganz allein.

Interessant an diesem historischen Prozess ist auch, dass die er­folgte Verrechtlichung der EU-Politik durch Europa-Verträge als eine solche bis heute noch gar nicht richtig wahrgenommen wor­den ist, obwohl die Vergemeinschaftung der Außen- und Verteidi­gungspolitik, wie in Art. 22, Abs. 1,3, des Lissabon-Vertrages nachzulesen, noch gar nicht beschlossen wurde, sondern alle Ent­scheidungen in diesen beiden Bereichen durch den Eu­ropäischen Rat nur einstimmig gefällt werden können — was bis­lang eine ge­meinsame Außen- und Verteidigungspolitik der EU grundsätzlich ausgeschlossen hat. In diesem Fall lässt sich offenbar sagen, dass die Verrechtlichung der EU-Wirtschafts- und -Währungspolitik be­reits begonnen worden ist, ohne dass es bislang auch schon zur Vergemeinschaftung der EU-Außen- und —Verteidigungspolitik gekommen ist — dass diese erst im Vorgriff anvisiert, aber eben noch nicht institutionalisiert wurde. Letzteres steht noch aus.

 

V. Umrisse einer Welt-Union

 

Vor diesem Hintergrund möchte ich nun, so kurz wie nur möglich, die Umrisse einer Weltorganisation skizzieren, die meines Erachtens in der Lage ist, den “Völkerbund“ der Vereinten Nationen eines Tages durch eine “Weltrepublik“ im Kantschen Sinne bzw. eine Welt-Union zu ersetzen, weil sie effektiver ist. Die erste Voraussetzung für ihre Schaffung ist meines Erachtens, dass an die Stelle von 193 mehr oder weniger souveränen Staaten eine geringe Zahl kontinentaler Gemeinschaften von der subsidiären Art der EU treten, die also gerade nicht vollsouverän, sondern nur teil­souverän sind. Hinzu kommt, dass für sie, worauf Roland Witt­mann aufmerksam gemacht hat, das “Homogenitätsprinzip“ gilt. Davon, dass die Bestandteile einer “Weltrepublik“ alle samt “re­publikanisch“ sein müssten, ist Kant in der Tat ausgegangen. Da­runter hat er verstanden, dass sie eine rechtsstaatliche, gewal­tenteilige und demokratische Verfassung aufweisen, die aber dur­chaus auch mit einer Monarchie zu vereinbaren sei.[3] Diese Grund­lage ist meines Erachtens eine “conditio sine qua non“, also eine Bedingung, ohne welche eine Weltorganisation nicht funktions­fähig ist. Warum das?

Weil eine Weltorganisation eines tragfähigen Unterbaues be­darf, der es ihr ermöglicht, sich ausschließlich globalen Aufgaben und Pflichten zu widmen, sie aber von allen kommunalen, staat­lichen und kontinentalen Entscheidungen befreit. Die müssen von den jeweils zuständigen Instanzen getroffen werden. Um sie kann sich eine Weltorganisation nicht kümmern. Hinzu kommt, dass die kontinentalen Gemeinschaften, weil sie selbst einen subsidiären Charakter haben, bereit und in der Lage sind, eigene Kompetenzen abzugeben. Dazu sind kontinentale Großstaaten wegen ihrer Or­ganisationsform und ihres Selbstverständnisses jedenfalls gar nicht in der Lage.

Eine so geartete Weltorganisation, die ich Welt-Union nennen würde, müsste — das ist die zweite Voraussetzung ihrer Effek­tivität — so beschaffen sein, dass sie den Rückhalt der kontinen­talen Gemeinschaften besitzt, was heißt, dass sie von ihnen ge­gründet, personell ausgestattet und finanziert wird, und dass ihre Existenz und Kompetenz vertraglich abgesichert sind, so dass die Beziehungen zwischen den Kontinental-Unionen ebenfalls “ver­rechtlicht“ werden können; genauso wie es zuvor mit den Mit­gliedstaaten derselben geschehen ist. Die personelle Ausstattung der Welt-Union würde der Zahl nach gering sein, da es ja nur eine sehr begrenzte Anzahl von kontinentalen Gemeinschaften geben wird. Ob die Welt-Union außer einer Exekutive auch noch eines legislativen Organs und einer richterlichen Instanz bedarf und wie diese beschaffen sein werden, das wird sich, wenn es soweit ist, ergeben. Das zu konzipieren, sehe ich nicht als meine Aufgabe an.

All denen, die monieren, dass in meiner Rechnung der “Staat“ gar nicht auftaucht, dass ich gar nicht auf Kants “Föderalism freier Staaten“ eingegangen bin und dass ich in “nicht-staatliche Organi­sationen“ ein allzu großes Vertrauen gesetzt habe, möchte ich zu bedenken geben: Was den “Staat“ angeht, so spielt er in meinen Überlegungen, auch wenn ich ihn domestiziert habe, doch insofern eine entscheidende Rolle, als er, wie ja doch nicht zu übersehen, in meiner Projektion der Rückhalt bzw. sogar das Herz der Kontinen­tal-Unionen ist. — Was den Kantschen “Föderalismus“ angeht, so ist er meiner Ansicht nicht in der Lage, als Grundlage einer “Welt-Union“ zu dienen, weil dessen Wert in seinem Verständnis ledi­glich in der Dezentralisierung des souveränen Staates besteht, nicht aber eine Teilung der Souveränität im Sinne der Subsidiarität be­wirkt.[4] — Und was die Lebenskraft von nicht-staatlichen Gemein­schaften angeht, so darf ich nur daran erinnern, dass die Schweiz das beste historische Beispiel dafür ist, dass konföderale, also nicht-staatliche Gemeinschaften, welche ihre sehr heterogenen Teile achten und schützen, besser zusammengehalten haben als so manche Reiche und gar viele Staaten, weil die Interessen und der Bestand der Kantone in der Schweiz alle Zeit höchste Priorität ge­habt haben.

 

VI. Von Kants Dilemma befreit, aber doch in seinem Sinne

 

Wenn es das Dilemma von Kant gewesen ist, dass ihn die Sou­veränität eines “Weltstaates“ derart abgeschreckt hat, so dass er die Souveränität der Einzelstaaten für das kleinere Übel gehalten und deshalb für den “Völkerbund“ als bestmögliche Friedensordnung auf der Erde plädiert hat, dann kann ich mir gut vorstellen, dass er an der hier skizzierten “Welt-Union“ höchstes Gefallen gefunden hätte. Die subsidiäre Organisationsform der EU vor Augen, sind wir heute in der Lage, eine effektivere Friedensordnung zu konzipieren, nicht nur von ihr zu reden, sondern sie möglicher­weise in der Zukunft, so ihre unabdingbaren Voraussetzungen geschaffen worden sind, auch zu realisieren.

Obwohl ich meine, dass der “Zwietracht“ im Kantschen Sinne in der hier favorisierten “Welt-Union“ genügend Spielraum eingeräumt sein wird, um die Freiheit der Bürger nicht zu er­sticken, sondern sie nach allen Regeln der Kunst wetteifern zu las­sen, halte ich es mit Kant nicht für ausgeschlossen, dass es auch in ihr und trotz ihr zu “Ausbrüchen feindlicher Neigungen“ oder, wie er sagte, zu einem “furor impius intus“ kommen kann (Kant, 1795,
S. 357). Wenn schon demokratische Rechtsstaaten nicht davor ge­feit sind, zu autoritären oder gar totalitären Staaten zu mutieren, dann ist es auch nicht auszuschließen, dass es selbst in einer ver­rechtlichten Weltgemeinschaft zu Pannen in Gestalt von schwer einzudämmenden Konflikten kommen kann. Denn, um noch ein letztes Mal Kant zu zitieren: „Aus, so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert wer­den. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auf­erlegt“ (Kant, 1784, S. 23). Eine Annäherung an die Idee des “ewigen Friedens“ ist die von mir konzipierte Welt-Union jeden­falls eher als der von Kant als Notlösung favorisierte “Völker­bund“.

 

Bibliographie

 

Eberl O., 2004: Realismus des Rechts — Kants Beitrag zum in­ternationalen Frieden, in: Blätter für deutsche und internationale Politik.

Höffe O., 1996: Eine Weltrepublik als Minimalstaat — Zur Theorie internationaler Gerechtigkeit, in: “Zum ewigen Frieden“ — Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Im­ma­nuel Kant. Hrsg. R. Merkel, R. Wittmann. F. a. M.

Кant I., 1784: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant I. Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe).
Bd. VIII.

Кant I., 1795: Zum ewigen Frieden, in: Kant I. Gesammelte Schriften (Akade­mie-Ausgabe). Bd. VIII.

Patzig G., 1996: Kants Schrift „zum ewigen Frieden“, in: “Zum ewigen Frieden“ — Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Im­ma­nuel Kant. Hrsg. R. Merkel, R. Wittmann. F. a. M.

Wittmann R., 1996: Kants Friedensentwurf — Antizipation oder Utopie? in: “Zum ewigen Frieden“ — Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Im­ma­nuel Kant. Hrsg. R. Merkel, R. Wittmann. F. a. M.

 

 

Zur Person des Autors

Prof. Emer. Helmut Wagner, Otto Suhr Institute of Political Science, Free University of Berlin, e-mail: helwag00@yahoo.de

 

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Wagner, Helmut. Das Kant Dilemma — Sein “Weltstaat“. Wie lässt sich heute eine Weltgemeinschaft denken?// Kant’s Project of Perpetual Peace in the Context of Contemporary Politics : proceedings of international seminar/ ed. by A. Zilber, A. Salikov. — Kaliningrad : IKBFU Press, 2013. S. 85 – 98.



© Wagner H., 2013

[1] Im Jahre 1796, ein Jahr nach der Publikation von Kants Abhandlung, hat der Göttinger Theologe Karl Friedrich Stäudlin (1761—1826) sie wie folgt kommentiert: „Die… Schrift… wird die Aufmerksamkeit der Na­tionen einernten und auf entfernte Geschlechter hinwirken. Eine lehr­rei­che Lektion für Fürsten und Minister, so wie für den Untertanen, wird sie hel­fen, die Politik der Moral zu unterwerfen und die Menschen der brü­der­lichen Vereinigung näherzubringen“ (Brief Nr. 660 — AA, XII, S. 60).

[2] Dieses Passus hat Günther Patzig im Sinne von Kant wie folgt kom­men­tiert: „Nur ein Pluralismus von Staaten scheint eine Sicherung zu bieten, ge­gen die tödliche Gefahr, dass auch eine Weltregierung zu einer Diktatur en­tartet, deren Übermacht zwar Kriege verhindern, aber auch die Frei­heit­sräume der Individuen endgültig vernichten kann“ (Patzig, 1996, S. 21).

[3] Zum “Homogenitätsprinzip“ bei Kant vgl. Wittmann, 1996. S. 143.

[4] Zum “Föderalismusprinzip“ bei Kant vgl. Wittmann, 1996. S. 144.