Choong-Jin Lee. Praktische Philosophie Kants und ihre Rezeption in der konfuzianischen Kultur in „Der Fall Korea“
Vor etwa 120 Jahren hat Korea den Philosophen Kant zum ersten Mal kennengelernt. Es war eine Zeit, in der Korea mit vielen europäischen Mächten Konflikte hatte und die 500-jährige Dynastie allmählich zu Ende ging. Im Rahmen historisch-politischer Umstände Koreas schenkten koreanische Philosophen vor allem der kantischen Lehre über die Moral und über den ewigen Frieden Aufmerksamkeit. Dass Korea damals ein sowohl privat als auch öffentlich konfuzianisches Land war, das war auch ein Grund, warum die praktische Philosophie vor der theoretischen aufgenommen wurde. Denn der Konfuzianismus ist in der ersten Linie und in seinem größten Teil eine praktische Philosophie. Es war also kein Zufall, dass der erste koreanische Kant-Übersetzer, Jae-Hi Choi, nicht die erste Kritik(1969) sondern die zweite(1957) ins Koreanische übersetzt hat.
Wenn man aber Kants praktische Philosophie in Moral- (Kritik der praktischen Vernunft, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Tugendlehre usw.) und Rechtsphilosophie (Rechtslehre, Zum ewigen Frieden, Kleine geschichtsphilosophische Schriften von 1780 Jahren usw.) unterteilt, und wenn man die Tendenz der koreanischen Rezeption der beiden anschaut, dann sieht man ein unerwartetes Phänomen. Während die Moralphilosophie Kants seit geraumer Zeit umfangreich erforscht wird, bleibt jedoch seine Rechts- und politische Philosophie außerhalb des Interesses der koreanischen Philosophen. Die koreanische Übersetzungen der kantischen Schriften sind gute Beispiele: Die zweite Kritik (1957), GMS (1970), und Religionsschrift (1984) wurden schon lange übersetzt, dagegen aber stehen die Übersetzungen der Rechtslehre noch aus, und die Friedensschrift wurde erst im Jahre 1992 von einem Koreaner übersetzt, der aber nicht Kantianer ist. Die Rezeption der praktischen Philosophie Kants war und ist bis heute so einseitig, dass man sie auch als eine Asymmetrie bezeichnen kann. Die Asymmetrie ist daher nur schwer zu verstehen, weil Korea sich, außer seiner konfuzianischen Tradition, im Laufe der letzten knapp 200 Jahre zu einer europäisch-politischen Demokratie entwickelt hat.
Im Hinblich auf diese Asymmetrie möchte ich heute eine These aufstellen. Die These lautet: Den zwei verschiedenen Tendenzen der Rezeption, d. i. der positiv-aktiven Rezeption der kantischen Moralphilosophie und der negativ-passiven Rechtsphilosophie liegt eine gemeinsame Ursache zugrunde: Der Konfuzianismus.
2. Über die Rezeption der kantischen Moralphilosophie
Der erste Punkt geht über die Menschheit(仁) in dem obrigen Zitat, das aus einer konfuzianischen Schrift stammt. Der gute Mensch (大人) soll dem Konfuzianismus nach ein solcher sein, der die moralischen Richtlinien wichtiger als seine eigenen Vorteile bzw. seinen Profit empfindet. Er ist also jederzeit bereit, für die moralischen Richtlinien auf den Profit zu verzichten, auch wenn dieser auch noch so gross erscheint. Der Verzicht enthält nicht nur den eigenen Profit sondern auch die öffentlichen Profite, wie beispielsweise den Profit des Staates. Der böse Mensch (小人) dagegen orientiert sich nur an seinen Interessen und opfert dafür, wenn es nötig ist, sogar die moralischen Richtlinien. Hier spielt es auch keine Rolle, ob die Gewinne für ihn selbst oder für die anderen oder auch für sein Land gesucht werden. Aber eins von den beiden Richtlinien steht dem anderen vor, weil die moralische Richtlinie dem Konfuzius nach das Wesen der Menschlichkeit ist.
Wenn wir einen Unterschied übersehen, dass bei Kant die Handlung oder Gesinnung gut ist aber bei Konfuzius die menschliche Verfassung, dann erkennen wir eine gewisse Ähnlichkeit des Begriffes ‘moralisches Gut’ bei beiden Philosophen. Als Sollens- und Pflichtethiker sagt Kant: Die gute moralische Handlung hält nichts vom Profit; sie kommt dem handelnden Menschen als eine Pflicht vor. Das gleiche sagt der Konfuzianist Mencius: Man soll nicht immer über den Profit sondern über die Menschheit sprechen. Ein Konfuzianist soll zuerst über die Moral nachdenken. Über den Profit darf er erst danach denken. Das gilt sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben. Diese beiden notwendigen Elemente des menschlichen Lebens(Moral und Profit) stehen unter einer festen Hierarchie. Denn das eine ist das Wesentliche der Menschheit, das andere aber nicht.
Eine andere Seite der kantischen Ethik, dass der Wille oder das Motiv des Handelnden allein gut im moralischen Sinne sein kann, war auch den Konfuzianisten sehr bekannt. Der Konfuzianismus hatte eine homozentralische Weltanschauung, dennoch wusste man um die Grenze des menschlichen Wesens. Er versucht nicht zu vergessen, dass es eine unüberschreitbare Grenze zwischen dem ‘in mir’ und ‘außerhalb von mir’ gibt. Für den Handelnden bedeutet dies: Ich soll jederzeit im Bewusstsein das, was ich in meiner Gewalt habe und das, was ich der Hand des Himmels überlassen soll, haben. Das wichtigste, was zum jenem gehört, ist die richtige Gesinnung, buddhistisch ausgedrückt, die klare Seele (正心), die bei der Handlung absolut allein darüber nachdenkt, ob sie moralisch gut ist oder nicht. Sie ist nichts anderes als der gute Wille, der eine Handlung nur deswegen will, weil sie gut ist. Wer der Handelnde ist, im welchem Kontext die Handlung sich befindet, welche Folge die Handlung mit sich bringt usw., alles bleibt ausserhalb der Betrachtung. Auch hier steht Kant nicht weit weg vom Konfuzianismus.
Diese Überlegenheit der Moral vor dem Profit und die Betonung der menschlichen Gesinnung/Verfassung ist in der konfuzianischen Kultur so selbstverständlich, dass die anderen europäischen Morallehren wie z. B. Utilitarismus, Pragmatismus usw. viel schwerer in Korea aufgenommen wurden. Aber in Kant vom GMS und KdpV sahen Koreaner im 19Jh. ein altes bekanntes Gesicht. Sie hatten keine Schwierigkeiten, den Philosophen als ihren Freund anzunehmen.
Das war auch ein Hintergrund für die einwandlose Aufnahme der kantischen Morallehre, dass sie eine homozentralische Ethik ist. Im Konfuzismus gibt es keinen Begriff wie beispielsweise ‘der transzendente Gott’ und in Korea hat man eine gänzlich homozentralische Metaphysik. Daraus folgt eine homozentralische Ethik problemlos. So war es, wenn Koreaner auch den Mensch nicht immer und nicht in der ersten Linie als das Vernunftswesen verstanden haben. — Dazu aber werden wir ein anderes Argument benötigen.
3. Über die Rezeption der kantischen Rechtsphilosophie
Der zweite Punkt ist die Gerechtigkeit(義). Die Gerechtigkeit ist eine von den fünf konfuzianischen Kardinal-Tugenden(義 親 信 別 序), und zwar die wichtigste Säule. Denn sie ist in der ersten Linie eine politische Tugend. Konfuzius richtete sich von Anfang an nach der Politik und der Konfuzianismus war und ist bis heute im größten Teil eine politische Philosophie. Es ist daher nicht ohne Grund zu vermuten, dass koreanische Philosophen sich eher für die kantische Rechts- und politische Philosophie interessiert haben als für die Moralphilosophie. Aber die Realität ist, wie ich es oben erwähnt habe, anders als die Vermutung. Um den Grund zu erfahren, muss man kurz einen Blick auf einen Konkurrenten des Konfuzianismus werfen.
In der Konfuzius-Zeit traten einige Philosophen vor, die den Konfuzianismus stark kritisiert haben und versuchten, eigene Theorien zu bilden. Ihr Ziel lag in der Verstärkung ihres Staates und in der Vereinigung ihres Landes, welches in viele kleine Länder geteilt war. Sie stellten drei notwendige Elemente der guten Politik vor: die Macht (勢), wodurch das Volk dem König Gehorsam schenken muss, die Technik bzw. Klugheit (術) des Beherrschens und die Gesetze (法) als öffentliche Regeln der Beherrschung. Man nennt diese Philosophen ‘Legalisten’ vor allen deswegen, weil sie das letztere für das wichtigste hielten. (Sie waren sehr ähnlich mit dem modernen Rechtspositivismus). Nach dem chinesischen Legalismus war die beste Politik ‘die Herrschaft durch die Gesetze’. Diese Gesetze wurden aber nicht als Normen verstanden, von denen die Politik geregelt werden sollte. Sondern sie waren bloß das effektive Mittel der Politik. Der Konkurrent des Konfuzianismus dachte, die Politik müsse durch Gesetze gemacht werden, aber nur deswegen, weil sie auf solche Weise allein eine gute Politik sein kann. Es war die Rechts- und politische Philosophie, auf die sich der erste chinesische König Qín Shǐ Huáng Dì (秦始皇帝, BC 2) bei der Gründung seines größten Reichs und seine Beherrschung berufen hat.
Der Konfuzianismus vertrat von Anfang an viele andere Positionen als der Legalismus. Für jenen waren die Behauptungen von diesem eher augenscheinlich als fehlerhaft. Man muss, dem Konfuzianismus nach, einfach ‚Mehr’ nachdenken, wenn es um die Politik geht; Die Gesetzgebung und ihre Exekution ist das Minimum der Politik; für eine gute Politik reicht es einfach nicht. Ob die Gesetze vernünftig sind, oder ob es solche überhaupt gibt, war nicht entscheidend. Im Konfuzianismus war das Wesentliche der Politik die gute Tugend des Politikers. Die gute Tugend des Politikers bedeutet hier nicht eine Tautologie, die aussagt, dass ein guter Politiker eine gute Politik macht. Die gute Tugend des Politikers im konfuzianischen Sinne liegt nicht nur in dem öffentlichen und politischen Leben sondern auch in dem gesellschaftlichen und privaten Leben. Und dieses ist viel wichtiger als alles andere, und dieses muss auch die notwendige Bedingung für alles andere sein. Dass ein guter Mensch, der im größten Teil moralisch hervorragend ist, allein dadurch ein guter Politiker werden kann, kam bei den Koreanern nicht in Frage. Diese konfuzianischen Gedanken enthalten in sich schon eine Forderung. Diese Forderung lautet, dass ein Politiker vor der Annährung an die politische Macht seine menschliche Ausbildung vervollkommnen soll; der machthabende Politiker solle Mitgefühl, Mitleidenschaft, Toleranz in Verhältnis mit den anderen haben.
Seit dem 14. Jh. haben sich Koreaner an diese konfuzianische Politik gewöhnt. Im 19 Jh. schien ihnen Kants politische Philosophie wahrscheinlich sehr ähnlich zu sein wie der Legalismus. Für die koreanischen Kofuzianisten war „die Herrschaft durch die Gesetze“ nicht neu. Die Priorität der Vernunftsgesetze war für die konfuzianischen Philosophen aber auch nicht fremd, die das Staatsgesetz manchmal sogar „das Gesetz des Himmels“ nannten. Die Rechts- und politische Philosophie von Kant wurde, so vermute ich, eher als eine altmodische Lehre, als eine bekannte, in Korea aufgenommen. Das muss ein wichtiger Grund dafür sein, dass ein Teil der praktischen Philosophie Kants in Korea übersehen wurde.
Außerdem gibt es auch einige Gründe, die die positive Aufnahme der Kantischen Rechts- und politischen Philosophie in Korea verhindert haben. Im Konfuzianismus gibt es keinen modernen Begriff für das Wort ‘Individuum’, ‚subjektives Recht’ usw., und daher gibt es in ihm kaum Gelegenheit, eine Theorie des Gesellschaftsvertrags zu machen. Kants Lehre, dass die Politik nach der Moral und Profit suchen musst, gab den Koreanern keinen grossen Einfluss, weil die Hierarchie von den beiden ‘Gut’ in Korea genau festgehalten wurde. Auch die 150 jährige Vergessenheit der kantischen Rechtsphilosophie in Europa, hat sicher dazu geführt, dass Koreaner den gleichen Fehler gemacht haben.
4. Gibt es eine andere Asymmetrie in der Zukunft?
Korea nahm Kants Philosophie unmittelbar durch China auf. In den Zeiten der japanischen Besetzung war der größte Teil der aufgenommenen Philosophie aus Europa die kantische Philosophie. Nach dem koreanischen Krieg begannen viele junge Koreaner ohne Umwege den Philosophen zu treffen, indem Sie in Deutschland studierten. Erst am Ende der 1980er-Jahre bekam die praktische Philosophie von Kant angemessene Aufmerksamkeit, weil die 1970er und 1980er in Korea die Zeiten der Marx- und Hegel-Philosophie waren. Nun kann man sagen: die kantische Philosophie ist die wichtigste Philosophie, die aus Europa in Korea aufgenommen wurde. Im Jahre 1990 wurde die „Koreanische Kant-Gesellschaft“ gegründet und jedes Jahr erschienen zwei Zeitschriften mit dem Name „Kant-Forschungen“ und auch vier Tagungen fanden statt, um ‘Die Philosophie’ zu erforschen.
Es ist klar, dass die neue Generation in Korea das gleiche Gesicht des Philosophen sieht, wie die alte. Dadurch, dass Koreaner vor 120 Jahren die Gleichheit/Ähnlichkeit der Kantischen Philosophie mit dem Konfuzianismus festhielten, bemühten sie sich auch automatisch, die Allgemeingültigkeit des Konfuzianismus zu bestätigen. Für sie war es wichtig, dass ihre traditionelle Philosophie sehr gut ist, sodass er über Korea und Fernost hinaus bis nach Europa als „der Beste“ bezeichnet werden kann. Aber die koreanischen Kantianer von 20. Jh. und Heute haben nicht mehr solche Interessen. Sie wollen nun zunächst die kantische Philosophie richtig und vollständig verstehen und mit den kantischen Augen ihre Wirklichkeit oder Wahrheit erkennen. Diese Änderung ist eine Folge dessen, dass der Konfuzianismus in den letzten 120 Jahren immer mehr zurück gegangen ist, aber die europäische, vor allem amerikanische Philosophie immer mehr einen größeren Einfluss in Korea ausgeübt hat.
Die praktische Philosophie von Kant wird in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich in der genau umgekehrten Richtung aufgenommen. Die Forschung seiner Moralphilosophie wird immer geringer werden. Aber die Beschäftigung mit seiner Rechtsphilosophie (inkl. politischen Philosophie) wird immer mehr zunehmen. Das letztere muss so sein, weil wir die Renaissance der Kantischen Rechtsphilosophie in Europa schon lange bemerkt haben und dennoch die Forschung erst am Anfang steht. Darüber hinaus wird die praktische Philosophie der Amerikaner in Korea einen immer größeren Einfluss gewinnen, weil wir seit 1950 mit den USA eine enge Beziehung haben.
In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung nach der traditionellen bzw. konfuzianischen Philosophie bemerkenswert zugenommen. Diese Tendenz wird sicher immer stärker werden und wird sicher von Generationen zu Generationen weitergegeben. Im Moment kann man nicht voraussagen, welchem Teil der praktischen Philosophie von Kant dieser neu interpretierte, koreanische Konfuzianismus zuerst die Hand geben wird. Das können wir vielleicht in 40 Jahren genau wissen, d. i. in der 20sten Internationale Kant-Konferenz. Dies hoffe ich von ganzem Herzen.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Lee, Choong-Jin. Praktische Philosophie Kants und ihre Rezeption in der konfuzianischen Kultur in „Der Fall Korea“// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 2, S. 247 – 254.