Carola Häntsch. Kant und die postmoderne Vernunft
Dass die Philosophie Immanuel Kants die moderne, aufgeklärte Vernunft in Europa in entscheidendem Maße beeinflusst und geprägt hat unterliegt kaum einem Zweifel. Dass sein Denken darüber hinaus gerade auch für das, was wir heute „postmoderne“ Philosophie nennen, von grundlegender Bedeutung sein könnte, ist bislang weniger Gegenstand des Forschungsinteresses gewesen. Diese These will jedoch der vorliegende Artikel verfolgen und dabei einige mögliche Grundlinien der „postmodernen Kant-Rezeption“ skizzieren, deren vertiefte Darstellung aber umfänglicheren Forschungen zum Thema vorbehalten bleiben muß.
Zur Plausibilisierung dieser These beginne ich im ersten Teil mit einer kurzen Darstellung der Ausgangs-Differenz Moderne – Postmoderne (1), frage nach Kants Stellung in dieser Differenz und schließe einen empirisch-historischen Befund zur Auseinandersetzung einiger der französischen Philosophen, die zur postmodernen Philosophie gerechnet werden können, mit Kant an (2).
In einem zweiten Teil zeige ich einige systematische Verknüpfungen zwischen Kant und der „postmodernen Vernunft“ an: die kritische Perspektive (3), die Auseinandersetzung mit der Metaphysik (4), das Primat des Ethischen (5) und die Bedeutung der Urteilskraft (6).
1. Zur Differenz Moderne – Postmoderne in der Philosophie
Unter Philosophie der Moderne verstehen wir bekanntlich die Philosophie der Neuzeit, die spätestens seit Francis Bacon und René Descartes den Menschen als vernünftiges Wesen und denkendes Subjekt in den Mittelpunkt stellte. Die moderne Philosophie ist Denken aus der Identität und Einheit. Die moderne Vernunft ist Rationalität, deren Normen des Denkens und Kriterien der Wahrheit für alle Menschen gleichermaßen gelten und nachfolgend universal gültige Handlungsmaximen für Moral und Recht begründen sollen, die ihrerseits das friedliche Zusammenleben der Menschen in einem Staat und der Staaten untereinander gewährleisten. Die Moderne gipfelt in der Aufklärung. Unser gegenwärtiges Denken steht in der Überlieferung der Moderne und der Aufklärung und setzt diese fort.
Auf der anderen Seite hat die aufgeklärte Vernunft die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht verhindern können und auch am Beginn des 21. Jahrhunderts bietet die Welt längst nicht das Bild einer friedlich zusammenlebenden Kosmopolis, prägen politische und ökonomische Krisen das Zeitgeschehen. Das hat zu einer erneuten kritischen Hinterfragung der menschlichen Vernunft in ihrem modernen Verständnis als normative Rationalität geführt, die seit den 1980er Jahren insbesondere in Frankreich zum Tragen kam und unter dem Begriff der Postmoderne zusammengefasst wurde.
Das postmoderne Wissen, das Jean-François Lyotard 1979 unter der Parole vom Ende der „großen Erzählungen“ ins Spiel brachte [13], hat sich seither in verschiedene Entwürfe und Richtungen ausdifferenziert, so dass man kaum von „der“ postmodernen Philosophie sprechen kann. Was die postmodernen Denker eint, ließe sich vielleicht am ehesten beschreiben als ein Denken aus der Differenz und Heterogenität, als Verzicht auf Welterklärungsmodelle, die das Ganze zu fassen meinen und eine universal gültige Wahrheit postulieren und als Infragestellung der Dominanz eines philosophischen Diskurses. Vielmehr geht es stattdessen um die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven der Weltinterpretation und die Betonung der individuellen Verantwortung im Umgang mit den Regeln und Maximen des Denkens und Handelns.
Ich verwende den Begriff also nicht etwa zur Charakterisierung einer auf die Moderne folgenden Epoche des Denkens, sondern vielmehr als Begriff zur Bezeichnung einer anderen Weise des Philosophierens, einer Denkweise, die den modernen Diskurs kritisch auf seine Voraussetzungen und seine wissenschafts- und philosophiepolitischen Motive hin befragt. Die postmoderne Vernunftkritik steht damit ihrerseits in einer Reihe mit kritischen Gegenpositionen, die die Aufklärung von Anbeginn an herausgefordert hat, angefangen von der „Schwärmerei“ der Sturm und Drang-Bewegung über die Romantik bis hin zur „Dialektik der Aufklärung“.
Der moderne Diskurs hat empfindlich auf diese kritische Attitüde reagiert. Symptomatisch dafür erscheint insbesondere die rigide Polemik von Jürgen Habermas gegen das postmoderne Denken [9]. Die von Habermas vorgetragenen massiven Vorwürfe der „Neuen Unübersichtlichkeit“ und Beliebigkeit, des Relativismus und Konservatismus, „Antimodernismus“ etc. richten sich dabei in ihrem Kern gegen die Verabschiedung des autonomen Subjekts und der Vernunft (über die Kritik an der Reduktion auf instrumentelle Vernunft hinaus). Nach Ansicht von Habermas verbindet die Postmoderne „die Kritik der Subjektphilosophie mit einer Vernunftkritik, bei der die Vernunft nur noch im genitivus objectivus auftritt – und bei der es auf paradoxe Weise offen bleibt, wer oder was den Platz des genitivus subjectivus einnehmen soll (wenn schon nicht mehr die Vernunft selbst)“ [9, S. 134]. Mit dieser „totalen Vernunftkritik“ einher geht nach Habermas auch die Verabschiedung moderner Tugenden: „von methodischem Denken, von theoretischer Verantwortlichkeit und jenem Egalitarismus des wissenschaftlichen Denkens, das mit jedem privilegierten Zugang zur Wahrheit gebrochen hatte“ [9, S. 134]. Seiner Ansicht nach steigt die postmoderne Philosophie damit aus „dem der Moderne von Anbeginn innewohnenden Gegendiskurs“ [9, S. 222] aus und bietet „als einzige Affirmation die der Ausweglosigkeit“ [9, S. 223] an.
Habermas und seine Nachdenker übersehen dabei aber zweifelsohne, dass die Postmoderne philosophische Perspektiven eröffnet hat, die neue kritische und zugleich produktive Zugänge zum Denken und Handeln der jüngeren Geschichte ermöglichen und dabei gerade bei der Verantwortlichkeit des Individuums ansetzen. Entscheidende Impulse für diesen Ansatz liefert Kants Philosophie.
2. Kant zwischen Moderne und Postmoderne
Kants Philosophie wird in der Regel – und natürlich völlig zu Recht – im Kontext der Moderne und der Aufklärung verortet[1]. Er wird vielfach – unter dem Einfluß der traditionellen neukantianisch-erkenntnistheoretisch geprägten Kant-Interpretationen des späten 19. Jahrhunderts – als Philosoph der Vernunft verstanden, dem die Grundlegung einer normativen Rationalität zu verdanken ist.[2]
Auf der anderen Seite stehen wir vor dem Phänomen, daß die postmodernen Denker sich nicht nur auf Nietzsche und seine philosophischen Vorväter und Nachfolger, sondern in einem Maße auch auf Kant beziehen, das angesichts von dessen traditioneller (moderner) Lesart nicht zu erwarten wäre. Es ist eigentlich gerade der Spannungsbogen Kant – Nietzsche, der sich als ein zentraler Referenzrahmen für die postmoderne Philosophie erweist. Einige Beispiele seien an dieser Stelle – sozusagen als empirisch-historischer Ausgangs-Befund – erwähnt.
Für Emmanuel Levinas (1906–1995) werden sowohl Kant als auch Nietzsche wegen ihrer Begrenzung des Theoretischen und Allgemeinen durch das Ethische zu Anhaltspunkten seines Philosophierens. „Levinas hat sich auf beide, auf Kant emphatisch, auf Nietzsche zurückhaltender bezogen“ [17, S. 153][3].
Auch Jacques Derrida (1930–2004) nimmt – insbesondere in seinen Texten zur Politischen Philosophie – immer wieder Bezug auf Kant, so z.B. wenn er die Gerechtigkeit als Dekonstruktion bestimmt [7] oder ausgehend von der Differenz des Eigenen und des Fremden Möglichkeiten der Gastfreundschaft erörtert.
Jean-François Lyotard (1924–1998) veröffentlichte seine Kant-Lektionen unter dem Titel Die Analytik des Erhabenen 1991 als Resultat jahrelanger Vorlesungen. Er analysierte in ihnen unter Bezugnahme auf die gesamte Kritik der Urteilskraft und weitere zentrale Kant-Werke (KrV, KpV, Orientierungsschrift, Anthropologie) die Paragraphen 23-29 der dritten Kritik Kants, die sich mit dem Erhabenen beschäftigen [12]. Auch in seinem zentralen Werk Der Widerstreit [14] von 1983 ist Kant neben Aristoteles, Hegel und Wittgenstein eine zentrale Referenzgröße.
Michel Foucault (1926–1984) beschäftigte sich mit Kants Philosophie u.a. 1978 in einem Vortrag mit dem Titel Was ist Kritik? [8], der 1990 posthum veröffentlicht wurde. Er untersuchte hier den Beitrag der „erhabene(n) Unternehmung Kants“ zur Herausbildung einer „kritische(n) Haltung als Tugend im allgemeinen“ [8; 9] und die Frage nach dem Verhältnis von Kritik und Aufklärung.
Pierre Bourdieus (1930–2002) Denken erweist sich bis in die Titel seiner Schriften hinein als sehr Kantisches Unternehmen, man denke nur an solche Titel wie Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft 1979 [1], Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft 1987 [2][4] oder Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns 1994 [4].
Gilles Deleuze (1925–1995) schrieb bereits 1963 Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen. Er schrieb das Buch in kritischer Attitüde, „als Buch über einen Feind, von dem ich zu zeigen versuchte, wie er funktioniert – was seine Zahnräder sind – Tribunal der Vernunft, angemessener Gebrauch der Vermögen, Unterwerfung, die um so heuchlerischer ist, da man uns den Titel des Gesetzgebers verleiht“ [5].
Diese Hinweise mögen an dieser Stelle als empirischer Ausgangsbefund genügen, der jedoch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und im Einzelnen auszuarbeiten wäre.
Ernsthaftes Philosophieren kommt an Kant nicht vorbei – das muß gerade hier in Kaliningrad, an der Wirkungsstätte Kants, nicht extra betont werden. Dennoch übersteigt die Intensität, mit der sich die postmodernen Denker immer wieder auf den Philosophen aus Königsberg beziehen, das dem gewöhnlichen akademischen Diskurs geschuldete Pflichtpensum.
Wie lässt sich die erstaunliche Intensität der postmodernen Rückgriffe auf Kant erklären? Warum orientiert sich die philosophische Denkweise, der man sogar die Destruktion der europäischen Rationalität vorgeworfen hat, in solchem Maße an Kant, der ja gemeinhin (in der traditionellen modernen Lesart) als der „Erzphilosoph“ der europäischen Rationalität gelesen wird?
3. Systematische Verknüpfungen: Kant als Kritiker der Vernunft
Die europäische Philosophie ist am Ausgang des 20. Jahrhunderts (u.a. im Kontext/ als Folge der Auseinandersetzung mit heideggerianisch-hermeneutisch geprägten Kant-Interpretationen des 20. Jahrhunderts) offensichtlich verstärkt darauf aufmerksam geworden, dass Kant vor allem als Kritiker der Vernunft zu verstehen ist. Kants „klassische Vernunft“ erweist sich vor allem als kritische Vernunft, vor deren Richterstuhl sich Religion, Staat und die Vernunft selbst zu verantworten haben. Kant ist nicht der Philosoph der (reinen) Vernunft, sondern ihr Kritiker. Josef Simon hat das in seiner Kant-Interpretation nachhaltig deutlich gemacht [15].
Es scheint zunächst diese vernunftkritische Perspektive Kants einschließlich ihrer radikalen Konsequenzen für das Denken des Ethischen, Ästhetischen und Politischen zu sein, die ihn neben Nietzsche für die französischen Denker am Ausgang des 20. Jahrhunderts so attraktiv macht und systematische Zugänge für eine postmoderne Kant-Lektüre eröffnet.
Foucault bestimmt diese „kritische Haltung“ als „Tugend im allgemeinen“, als „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ [8, S. 12]. Für Foucault verschiebt sich die Kritik hin zu den politischen Dimensionen des Vernunftgebrauchs, sie wird zur „Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.“ [8, S. 15]. Was er als Kritik charakterisiert ist das, was „Kant als Aufklärung beschrieben hat“: ein „Appell an den Mut“, eine kritische Haltung gegenüber dem „großen historischen Prozeß der Regierbarmachung der Gesellschaft“ [8, S. 16].
Daraus folgt für ihn die Frage, wie Kant die „eigentliche Kritik“ im Verhältnis zu jener Aufklärung definiert, die er wie folgt beantwortet: „Die Kritik also wird sagen: um unsere Freiheit geht es weniger in dem, was wir mit mehr oder weniger Mut unternehmen als vielmehr in der Idee, die wir uns von unserer Erkenntnis und ihren Grenzen machen“ [8, S. 17]. Kants Vorhaben ist es, die Grenzen der Reichweite der menschlichen Vernunft, ihre Begrenztheit und ihre Perspektivität aufzuzeigen. Die „Erkenntnis der Erkenntnis“ geht „als Prolegomenon zu jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung“ vorher [8, S. 18]. Dieses Vorhaben richtet sich zunächst auf die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch, die Metaphysik.
4. Die Auseinandersetzung mit der Metaphysik
Gilles Deleuze hat die Leitthemen der „kantischen Revolution“ anhand von vier Dichter-Sprüchen veranschaulicht, von denen sich die ersten beiden auf die Kritik der reinen Vernunft, der dritte auf die Kritik der praktischen Vernunft und der vierte auf die Kritik der Urteilskraft beziehen. Ich folge hier den Grundlinien seiner Kant-Lektüre [5, S. 7—15].
1. Hamlet: The time is out of joint! Die Zeit ist aus den Angeln.
Die „erste große kantische Umkehrung in der KrV“ ist „die Umkehrung der Beziehung zwischen Bewegung und Zeit“ [5, S. 12]. Solange die Zeit in ihren Angeln bleibt, ist sie das Maß der Bewegung. Nun aber bezieht sich die Zeit nicht mehr auf die Bewegung, sondern die Bewegung ordnet sich der Zeit unter, „die Bewegung bezieht sich auf die Zeit, die sie bedingt.“ Zeit wird zur „Form all dessen, was sich ändert und bewegt“, ändert sich selbst aber nicht, sie wird „unwandelbare Form des Wechsels“ [5, S. 8—9].
2. Rimbaud: Ich ist ein anderer.
Diesen Satz verwendet Deleuze, um einen „anderen Aspekt der kantischen Revolution, wiederum in der KrV“ zu verdeutlichen: das Eingehen der Zeit in das Innere des Subjekts (als Form des Inneren, innerer Sinn), „um in ihm das Ich und das ich zu unterscheiden“ [5, S. 11]. Das Ich, das „in der Zeit“, sich verändernd, passiv, rezeptiv, phänomenal ist und das ich als Akt der „Synthese der Zeit und dessen, was in der Zeit geschieht“, sind durch die Zeitlinie getrennt und zugleich verschränkt; die sich ständig verschiebende Differenz zwischen Ich und ich konstituiert die Zeit.
Für Kant war das denkende Ich bekanntlich eine „für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: […], von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können;“ [AA 346]. Wir haben es bei Kant also nicht mit einem transzendentalen Subjekt im Sinne irgendeiner ontologischen Entität zu tun, sondern vielmehr im Sinne einer Voraussetzung, die ich machen muß, wenn ich das Denken denken will. Ich kann davon ebenso wenig sagen wie von der Freiheit, die ich aber voraussetzen muß, wenn ich den Menschen als moralisches Wesen denken will. Diesem „Subjekt der Gedanken = x“ entspräche bei Deleuze das ich als Akt der Synthese.
Darüber hinaus und zugänglich bleibt nur die Erscheinung, das Ich „in der Zeit“, eine „unendliche Abwandlung (Modulation)“ [5, S. 11], dessen Denken und Handeln an die Zeit und an den Standort gebunden ist und immer nur aus dem „Privathorizont“, der Perspektive der „eigenen Vernunft“ heraus erfolgen kann, der immer eine andere, „fremde Vernunft“ gegenübersteht, die sich nicht ohne weiteres erschließt. Dieses Ich „in der Zeit“ stellt sich die Aktivität seines eigenen Denkens vor als ich, „ein Anderer, der es affiziert“ [5, S. 10].
Deleuze verweist damit im Ausgang von Kant einerseits auf die Temporalität des Denkens, das Denken des Denkens und des Seins, des Subjekts und der Substanz, von der Zeit her und andererseits auf die Individualität des Denkens. Der vielfach beklagte Verlust des Subjekts erweist sich so vielmehr als Wiedergewinnung des Individuums als unhintergehbaren Ausgangspunktes des Philosophierens (Denkens des Denkens); eines Individuums allerdings, dessen Identität sich in einem fortlaufenden Prozeß von Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstidentifikationen und Zuschreibungen von Identitäten ständig neu konstituiert. Damit rücken insbesondere die ethischen und politischen Implikationen des Denkens in das Blickfeld und zugleich die Betonung der individuellen Verantwortung im Umgang mit den Regeln des Denkens und Handelns (im Unterschied zur Betonung einer universalen normativen Rationalität, die universale Handlungsmaximen vorschreiben könnte).
Dem trägt ein Denken aus der Differenz Rechnung. Hier kann man den Ansatz sehen für Foucaults kritische Hinterfragung des traditionellen Subjektbegriffs, Lyotards Inkommensurabilität der Diskurse oder Derridas Analysen des Fremden. Dieser Orientierung folgt auch Bourdieu mit seiner relationalen Auffassung der (sozialen) Welt, die die soziale Bedingtheit von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wissensformen einschließt und mit der These über die Identität des Menschen als Resultat einer sozialen Konstruktion.
5. Primat der Praktischen Philosophie –
Ethik als „erste Philosophie“
Die ethischen und politischen Motive erweisen sich als eigentlich letzte Ausgangspunkte für die kritische Analyse der bisherigen abendländischen Metaphysik durch die Postmoderne und unterscheiden sie von früheren Versuchen der Metaphysik-Kritik im 20. Jahrhundert, die bei wissenschaftstheoretischen Grundlegungsfragen ansetzen. Das Primat des Ethischen und die Thematisierung der politischen und ethischen Dimensionen des theoretischen Vernunftgebrauchs bilden zugleich einen weiteren Akzent der Kantischen Philosophie, den Deleuze mit einem dritten Dichterspruch andeutet, mit dem „kafkaesken Satz“ [5, S. 12] nämlich:
3. Das Gute ist das, was das Gesetz sagt.
Dieser dritte Aspekt der kantischen Revolution betrifft die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch. Für Platon sind die Gesetze eine „Imitation des Guten“, das Gute dient ihnen als höchster Grundsatz. „Kant führt die Umkehrung der Beziehung zwischen dem Gesetz und dem Guten ein, die genauso wichtig ist wie die Umkehrung der Beziehung zwischen Bewegung und Zeit.“ Bei Kant ist das Gesetz die „höchste Instanz“, das Gute hängt vom Gesetz ab. [5, S. 12] Das moralische Gesetz bestimmt sich als reine („leere“) Form von Allgemeinheit; es sagt, „welche Form er [der Wille] annehmen muß, um moralisch zu sein“ [5, S. 13].
Deleuze erinnert hier an den kategorischen Imperativ als Verweis auf die Verantwortung des Individuums. Für Kant ging es bekanntlich darum, das Wissen zu begrenzen, um für den Glauben Platz zu bekommen [B XXX], nicht in erster Linie für Glauben im religiösen Sinne, sondern für den Handlungsglauben, dasjenige Fürwahrhalten, auf das der Mensch seine Handlungen gründet. Dieses Fürwahrhalten steht niemals auf der Grundlage vollständigen Überblicks, der Kenntnis aller Bedingungen – es ist immer ein Fürwahrhalten im Fluß der Zeit und in einem komplexen Bedingungsgefüge. Und dennoch muß der Mensch davon ausgehend seine praktischen Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen verantworten, auch auf die Gefahr hin, seinem Gegenüber damit nicht in jedem Falle gerecht zu werden. „Die Schuld ist so etwas wie der Faden der Moral, der den Faden der Zeit verdoppelt.“ [5, S. 14]
Der Mensch allein muß entscheiden, ob die Maxime seiner Handlungen als allgemeines Gesetz denkbar wäre. Und er muß dabei in Rechnung stellen, daß diese Entscheidungen immer nur aus dem eigenen Horizont heraus getroffen werden können, dem der Horizont des Anderen, der Horizont einer „fremden Vernunft“ gegenübersteht. Aus dem kategorischen Imperativ sind keine allgemeinen Inhalte (Handlungsnormen) abzuleiten – er ist die „leere“ Form der Allgemeinheit [5, S. 13] – und es geht gerade nicht darum, dem anderen vorzuschreiben, wie er handeln soll. „Was konkret moralisch ist, kann sich jedem nur selbst zeigen, und es kann sich für ihn unter Umständen ändern. Bestimmte Handlungen können aus dem Gesichtspunkt des einen moralisch sein, aus dem eines anderen nicht. Es kann nach Kant darum nur Sache des Rechts sein, bestimmte Handlungen allgemein zu verbieten oder zu erlauben.“ [16, S. 70].
Das Moment der individuellen Verantwortung in der Moral – anknüpfend an Kants Unterscheidung von eigener und fremder Vernunft – thematisiert z.B. Derrida immer wieder in seinen kleineren politischen Schriften, so wenn er nach der Möglichkeit einer europäischen Identität aus der Antinomie zwischen Kapitalisierung und Zerstreuung fragt. „Im voraus über die Allgemeinheit einer Regel […] zu verfügen, darüber wie ein (vor)gegebenes Vermögen oder ein vorhandenes Wissen, wie über ein Wissen oder eine Macht zu verfügen, die der Besonderheit jeder Entscheidung, jeden Urteils, jeder Erfahrung vorausgehen, um sie mit Normen zu regeln und sich auf sie wie auf einzelne Fälle zu beziehen – damit wäre die sicherste, die beruhigendste Bestimmung der Verantwortung als Unverantwortlichkeit gegeben, die Moral mit dem juridischen Kalkül verwechselt, die Politik in Gestalt einer Techno-Wissenschaft eingerichtet“ [6, S. 53]. Moralisch handeln hieße hier vielmehr, Entscheidungsinhalte (Handlungsmaximen) immer neu darauf hin zu prüfen, ob sie als allgemeines Gesetz denkbar wären, sich immer neu für eine Regel zu entscheiden.
6. Urteilskraft – ästhetische Differenz
Der vierte Dichterspruch, auf den Deleuze zurückgreift, um Kants Revolution in der Philosophie zu beschreiben, betrifft die Kritik der Urteilskraft, eine „außergewöhnliche Unternehmung“ eines „zutiefst romantischen Kant“, zu der er sich hinreißen läßt , „als er ein Alter erreicht hat, in dem die großen Autoren sich selten erneuern“ [5, S. 14, 15].
4. Rimbaud: „Eine Entgrenzung aller Sinne“
So wie für Rimbaud die „Entgrenzung aller Sinne“ die zukünftige Poesie bestimmen sollte, würde die „ungeregelte“, „entregelte Übung aller Vermögen“ die zukünftige Philosophie bestimmen [5, S. 17]. Der disharmonische Einklang der Vermögen wird nicht mehr von einem Vermögen dominiert, sie sind fähig „zu freien Beziehungen ohne Regeln“ [5, S. 15], zu freiem Spiel und Kampf [5, S. 16]. Deleuze betrachtet die Kritik der Urteilskraft als „Gründung der Romantik“ [5, S. 15].
Es kann auf die Bedeutung dieser Kant-Lektüre von der Urteilskraft her an dieser Stelle nur kurz hingewiesen werden, sie ist in ihrer ganzen Tragweite bei weitem nicht erschlossen. Diese Perspektive verändert den Blick auf das Gesamtunternehmen Kants jedoch entscheidend.
Josef Simon faßt das in die These, daß die „ästhetische Differenz“ zwischen Personen zur Hauptsache der Philosophie wird: ”Die nicht in gemeinsame Begriffe (conceptus communis) zu fassende (ästhetische) Differenz der Personen unterhalb des untersten Begriffs von ´dem´ Menschen wird damit zur Sache und zur eigentlichen Hauptsache der Philosophie” [15, S. VII]. Philosophie hat es danach vorrangig mit dem Verhältnis von Individuen jenseits eines Begriffs vom transzendentalen Subjekt und einer definitiven Bestimmung ”des” Menschen zu tun, deren Vernunft nicht unabhängig vom jeweiligen Ort und der Zeit ihres Denkens und Handelns zu verstehen ist. Das Individuum in seiner jeweiligen Besonderheit sowie seine Kommunikation und sein Zusammenleben mit anderen Individuen in religiös, kulturell, politisch und rechtlich unterschiedlich verfaßten Gemeinschaften und in verschiedenen Zeithorizonten rücken in den Mittelpunkt der Philosophie.
Eine wesentlich detailliertere Analyse der systematischen Anknüpfungen der postmodernen Philosophen an Kant als sie hier möglich war könnte uns neue Perspektiven auf Kants Denken selbst eröffnen, die unter dem Einfluß der traditionellen neukantianisch geprägten Kant-Interpretationen bislang wenig sichtbar geworden sind.
Literaturverzeichnis
1. Bourdieu P. La distinction. Critique sociale du jugement. Paris, 1979.
2. Bourdieu P. Le sens pratique. Esquisse d´une théorie de la pratique. Paris, 1980.
3. Bourdieu P. Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. FaM: Suhrkamp, 2001.
4. Bourdieu P. Raisons pratiques. Sur la théorie de l´action. Paris, 1994.
5. Deleuze G. Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin: Merve, 1990.
6. Derrida J. Das andere Kap. Die aufgeschobene Demokratie. Zwei Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.
7. Derrida J. Force de loi. Le „fondement mystique de l´autorité“. New York, 1990.
8. Foucault M. Was ist Kritik? Berlin: Merve, 1992.
9. Habermas J. Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985.
10. Kant I. Kritik der reinen Vernunft. AA.
11. Levinas E. Die radikale Frage: Kant contra Heidegger sowie Kant-Lektüre, in: ders., Gott, der Tod und Zeit, hg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen, 1996.
12. Lyotard J-F. Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen. Paris, 1991.
13. Lyotard J-F. La Condition postmoderne: Rapport sur le savoir. Paris, 1979.
14. Lyotard J-F. Le Différend. Paris, 1983.
15. Simon J. Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York: de Gruyter, 2003.
16. Stegmaier W. Hauptwerke der Philosophie. Von Kant bis Nietzsche. Stuttgart: Reclam, 1997.
17. Stegmaier W. Levinas, Freiburg, Basel. Wien: Herder, 2002.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Häntsch, Carola. Kant und die postmoderne Vernunft// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 1, S. 429 – 441.
[1] Siehe z.B. die Tagung Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung im Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald im Oktober 2007.
[2] Dieses Kant-Verständnis spiegelt sich z.B. auch in der Themenstellung unserer Kaliningrader Konferenz wider, die Kants Vernunftkonzeption als „Beispiel für die klassische Auffassung der Vernunft, mit der die Epoche der Aufklärung zu Ende ging“, den „Herausforderungen der modernen Zivilisation“ gegenüberstellt.
[3] Vgl. u.a. [11, S. 67–77].
[4] Siehe auch [3].