Interview mit Dr. Werner Stark
Interview mit Dr. Werner Stark, Honorarprofessor der Philipps-Universität Marburg. Aufgenommen von Andrej Silber, Mitarbeiter des Kant-Instituts, während des Forschungsaufenthalts in Marburg in Rahmen des deutsch-russischen Programms „Immanuel Kant“.
— Wie war Ihr Weg zur Kant-Forschung? Was sind Ihre sonstige größte Interessen in und außer der Philosophie?
— Auslöser war eine Frage meines wichtigsten akademischen Lehrers, Prof. Dr. Reinhard Brandt (Philipps-Universität, Marburg): Wissen Sie, was Sie nach Ihrem Examen machen wollen? Mein NEIN hatte eine kleine Studie über den damals erschienenen Band XXIX,1.1 (1980) der Kant-Ausgabe der früheren Preußischen Akademie der Wissenschaften zur Folge. Die Arbeit lenkte mein Interesse auf die studentischen Nachschriften Kantischer Vorlesungen und ich begann mit einer eigenständigen Recherche, die rasch um grundsätzliche Fragen zur Überlieferung des handschriftlichen Nachlasses des Königsberger Philosophen erweitert wurde. Mehr philosophisch gesehen war und bin ich an der von Kant konzipierten Moralphilosophie und der damit zusamemnhängenden Rechts- und Staatstheorie interessiert. Hier hat – wie ich meine – Kant uns allen heute noch etwas zu sagen.
— Es gibt die Meinung, man habe schon Kants Philosophie genug und sogar überflüßig erforscht und interpretiert – was mögen Sie darüber sagen? Kommt ein heutiger Kant-Forscher mit, alle nötigen neuerschienen Texte rechtzeitig zu lesen?
— Die Frage kann ich nicht recht beantworten, weil mir ein Maß für ein ›Zuviel‹ oder
›Zuwenig‹ fehlt. Freilich bin ich unabhängig davon überzeugt, daß die Qualität (wozu ich die inhaltliche Komplexität, Gedankenschärfe und reflektierte Reichweite zähle) der Werke, hinreichend Grund gibt, sich intensiv mit den von Kant entwickelten philosophischen Positionen zu beschäftigen. Auch wenn es kein sachliches Argument ist, so meine ich doch, daß das weltweite und vielsprachige Interesse (ablesbar an der stetig steigenden Menge an Sekundärliteratur und Übersetzungen) zumindest zeigt, daß ich mit dieser Meinung nicht allein bin. Die Menge ist ganz erheblich, wie der ›Bibliographische Informationsdienst‹ der an der Universität Mainz angesiedelten Kant-Forschungsstelle belegen kann.
— Kants Briefwechsel und Vorlesungen, Opus postumum – warum ist das wertvoll und was (großes und wichtiges) steht noch in der Analyse, Einschätzung und Veröffentlichung dieser Texten bevor?
— Für eine wissenschaftliche, d. h. methodisch gesicherte, Erforschung und inhaltliche Auseinandersetzung mit den von Kant publizierten Schriften bzw. den darin formulierten Positionen und Argumentationen ist die Einbeziehung der genannten Quellen (Briefwechsel, Handschriftlicher Nachlaß, Vorlesungen) unverzichtbar. Vielfach sieht man gewissermaßen erst, was Kant genau wollte, worauf eine Argumentation genau zielt, wenn man den historischen und gedanklichen Kontext kennt, in dem eine bestimmte Schrift entstanden ist. Hier sind manchmal auch nur gering und nebensächlich erscheinende Informationen von großem Wert. Es ist nicht verkehrt, wenn man zum Vergleich auf die Kriminalistik, also die Arbeit der Kriminalpolizei, sieht. Die dort gesammelten Indizien haben ein erhebliches Gewicht; Ähnliches gilt für wohl für jede aufrichtige, der Historie verpflichtete Forschung.
— Ist es notwendig oder nützlich, diesen Nachlass aus dem Deutschen in andere Sprachen zu übersetzen? Ist das von modernen Kantforschern in der Sekundärliteratur noch nicht genug beschrieben und erklärt?
— Auch hier möchte ich ausweichen, denn darüber können und sollen nur diejenigen entscheiden, die eine solche, keineswegs leichte Arbeit auf sich nehmen und annehmen, dafür ein Interesse unter Lesern oder Geldgebern zu finden. Nützlich sind – gerade für den internationalen Austausch – Konferenzen wie die seit Jahren auch in Kaliningrad stattfindende Kongresse, denn so wird nicht nur Gelegenheit zum persönlichen Gespräch gegeben, sondern auch eine Form des öffentlichen Dialogs kultiviert.
— Die „Akademie-Ausgabe” insgesamt – ist noch nicht vollendet, aber inwiefern, um etwas präziser zu sagen?
— Die Kant-Ausgabe der früheren Preußischen Akademie der Wissenschaften hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Was 1896 als Pionierleistung begonnen wurde, war rund 60 Jahre später zu einer nur notdürftig geflickten Ruine geworden. Der ursprünglich geplante Bau ist nie fertig geworden und seit 2010 bemüht sich die Berlin-Brandenburgi- sche Akademie der Wissenschaften um eine Revision vor allem der Abteilung I mit den ›Werken‹ oder Druckschriften und die Fertigstellung der Abteilung IV, d. h. insbesondere um den Abschluß des Bandes XXVI mit den Vorlesungen über Physische Geographie. Diese werden – wie ich meine – noch manches neue Licht auf die innere Entwicklung des Philosophen werfen.
— Wie schätzen Sie die Perspektiven dieser Arbeit ein? Gibt es Interesse dafür bei jungen Mitarbeitern? Wichtige Hilfe von den ausländischen Kollegen?
— Ein Interesse ist vielfach vorhanden bzw. entsteht, wenn sich junge Leute ernsthaft den Kantischen Texten zuwenden können. Doch fehlt es – wenn ich recht sehe – mitunter an einer hinreichenden staatlichen oder privaten Unterstützung, um dies auch praktisch tun zu können. Der Kontakt und Austausch mit ausländischen Kollegen ist wichtig, sogar – wie Sie an einigen meiner Publikationen sehen können – bei Forschungen nach Handschriften von Kant selber oder von seinen Studenten.
— Was sind größte Verschwinden und größte Funden in Materialen der Kant-Forschung im XX. Jahrhundert? Besteht es die Hoffnung, das Verlorene wieder zu finden?
— Als Kant im Februar 1804 in Königsberg starb, war ein erheblicher Teil seiner Handschriften nicht in seinem Haus. 1799/1800 hat er einige Materialien an zwei jüngere Kollegen (Friedrich Theodor Rink / Gottlob Benjamin Jäsche) zum Zweck der Publikation übergeben. Diese Absicht ist nur in Teilen realisiert worden. Bis heute wissen wir darüber leider sehr wenig Genaues. Fest steht jedoch, daß auch Kant’s Verleger der letzten Jahre (Friedrich Nicolovius) in etwa zu derselben Zeit Papiere von Kant erhalten haben muß. Diese sind rund 30 Jahre weitgehend unbeachtet in Königsberg verblieben. Mit dem Ende des Verlages von Nicolovius beginnt eine komplizierte Geschichte, die bis heute andauert. Die vielleicht wichtigste Rolle spielt darin der Königsberger Bibliothekar Rudolf Reicke, der in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts eine große Sammlung von Kantischen Handschriften und studentischen Vorlesungsnachschriften zustande gebracht hat. Diese Sammlung ging 1907 in den Besitz der damaligen Staats- und Universitätsbibliothek in Königsberg über. Zusammen mit weiteren Teilen des Nachlasses, der auf verschiedenen Wegen in diese Bibliothek gelangt waren, sind diese Nachlaßstücke seit 1945 verschollen. – Ich hoffe noch immer, daß wenigstens Teile davon wiedergefunden werden.