Andree Hahmann. Rationalitӓtsbegründung und Eigennutz — was bleibt von der kantischen Vernunft im Konstruktivismus?
Zu den dringendsten Aufgaben der praktischen Philosophie gehört die Begründung normativer Sätze. Jahrhundertelang fanden moralische Sätze ihre Rechtfertigung in der Vernunft. Die Vernunft galt als das erhabenste menschliche Vermögen, dessen ausgewiesener Bereich den des Moralischen umfasst. Aber was ist, wenn die Vernunft selbst in Frage steht? Wenn sie in den Dienst des Nützlichen gestellt ist?
Mit dem Ende der großen Vernunftsysteme Mitte des 19. Jahrhunderts geht auch die Epoche der klassischen Vernunft zu Ende. Unter dem Eindruck der verheerenden Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Vernunft selbst schließlich zu einer Idee des Bürgertums, eine Idee, die kaum noch haltbar erscheint [6, S. 41]. Noch bis in die Neuzeit galt die Vernunft als Ursprung aller Gesellschaft und jeder Ordnung. Die Vernunft sollte die Verfassungen des Staates und die Rechte der Bürger begründen.
Doch steht auch jetzt nicht die Vernunft schlechthin in Frage. Schon John Locke stellt für den Vernunftbegriff zumindest drei unterschiedliche Bedeutungen heraus, denn „bisweilen bezeichnet sie [die Vernunft: A.H.] richtige und klare Prinzipien, dann wieder klare und einwandfreie Herleitungen aus diesen Prinzipien und endlich manchmal die Ursache, insbesondere die Endursache“ [9, S. 363]. Den verschiedenen Bedeutungen rechnet Locke entsprechende Tätigkeiten der Vernunft zu. Und Max Horkheimer streicht heraus, dass mit Ausnahme der Endursache alle diese Funktionen auch heute noch als rational erachtet werden[6, S. 43f.]. Die Finalursachen indessen werden aus der Vernunft verbannt, und diese wird auf ihre instrumentelle Bedeutung reduziert. „Sie ist ein Instrument, hat den Vorteil im Auge, Kälte und Nüchternheit als Tugenden“[6, S. 44].
Wie lässt sich eine so gefasste Vernunft zur Moral- und Rechtsbegründung dienbar machen? Welche allgemeinen Grundsätze lassen sich mit ihrer Hilfe begründen? Der Versuch, den instrumentellen Gebrauch der Vernunft, dessen sich das Streben nach seinem eigenen Vorteil bedient, mit moralischen Grundsätzen insbesondere Grundsätzen der Gerechtigkeit zusammenzuführen, geht bis in die frühe Neuzeit zurück, und zwar vor allem auf die Autoren, die es sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Finalursächlichkeit aus ihren Systemen zu verbannen[1]. In diesem Sinn ist auch im 20. Jahrhundert ein weiterer noch immer sehr einflussreicher Versuch unternommen worden. In seinem epochemachenden Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit sucht John Rawls, rationale Grundsätze der Gerechtigkeit aus einem eigennützigen Streben heraus zu begründen. Aber auch wenn sich die rawlssche Theorie mit der Verwendung wirtschaftswissenschaftlicher Modelle modern gibt, sieht Rawls sich selbst in der Tradition des neuzeitlichen politischen Denkens, ganz besonders sieht er sich aber der kantischen Philosophie verpflichtet.
Daher will diese Untersuchung der rawlsschen Einschätzung folgen und sie zum Anlass nehmen, die ursprünglich von ihm vorgelegte Konzeption sowie das von ihm und seinen Kritikern entwickelte Modell des „kantischen Konstruktivismus“ an ihren eigenen Ansprüchen zu messen und mit der kantischen Theorie zu konfrontieren, um sie auf diese Weise auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. In der Konfrontation mit der kantischen Moralphilosophie wird ein grundsätzliches Problem des Konstruktivismus deutlich: Der genuine Wert einer moralischen Handlung kann durch den konstruktivistischen Ansatz, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, nur mit minimalen metaphysischen Voraussetzungen zu arbeiten, nicht eingeholt werden.
Zu Beginn der Untersuchung werden die durch die rawlssche Theorie gegebenen argumentativen Voraussetzungen der aktuellen Debatte aufgezeigt, bevor einige der Einwände angeführt werden, die gegen die für die vorliegende Untersuchung relevanten Punkte der rawlsschen Position erhoben werden. Im Anschluss daran werden die Modifikationen, die Rawls selbst daraufhin an seiner Theorie vorgenommen hat, sowie drei exemplarische Positionen vorgestellt, die an Rawls anknüpfen. Schließlich werden die Schwächen der dargestellten Positionen anhand der kantischen Konzeption herausgestrichen und es sollen einige grundsätzliche Bedenken über die Rechtfertigbarkeit moralischer Grundsätze durch konstruktivistische Verfahren diskutiert werden.
1. John Rawl
Unbestritten muss Eine Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls zu den großen Werken der praktischen Philosophie im 20. Jahrhundert gezählt werden. Die Erwartungen, die an die von Rawls verwendeten und für die moralphilosophische Diskussion wieder entdeckten vertragstheoretischen Ansätze herangetragen, sowie die Hoffnungen, die an das Verfahren geknüpft wurden, waren immens. Es galt vor allem, sich aus der die bis zu diesem Zeitpunkt die philosophische Diskussion dominierenden Umklammerung utilitaristischer Ansätze zu befreien und die philosophischen Klassiker, und zwar hier vor allem die neuzeitlichen Vertrags- und Naturrechtstheorien, in einer abstrakten und für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar gemachten Form zu revitalisieren [4, S. 752]. Dabei kann das rawlssche Verfahren insofern als konstruktiv erachtet werden, als eine konstruktive Methode angeboten wird, Lösungen für moralphilosophische Probleme zu liefern [10, S. 44]. Entscheidend für den fiktiven Vertragsabschluss und damit den Verlauf des konstruktiv sich entfaltenden Prozesses, als dessen Ergebnis die obersten Grundsätze der Gerechtigkeit formuliert werden, sind die sich in einem ideal konzeptionierten Urzustand manifestierenden Ausgangsbedingungen bzw. Voraussetzungen des Entscheidungsprozesses. Die Urzustandskonzeption stellt hierbei eine sozial- und politikethische Variante des moralischen Standpunktes dar, [8, S. 120] d.h., um moralische Entscheidungen zu treffen, wird ein idealer Standpunkt formuliert, der sich durch scheinbar wenig problematische Annahmen auszeichnen soll. Auf diesem Weg soll eine Entscheidungshilfe für strittige Fälle modelliert werden [2, S. 416]. Das erhoffte Ergebnis aus dieser Konzeption wäre, dass die Wahl der ersten Gerechtigkeitsprinzipien einzig aufgrund einer rationalen Kosten-Nutzen Analyse erfolgt. Auf diese Weise präsentieren sich die ersten Grundsätze der Gerechtigkeit als das Ergebnis einer rationalen Interessenverfolgung und somit zugleich als das Ergebnis eines ausschließlich instrumentellen Vernunftgebrauchs [8, S. 122].
2. Kantischer Konstruktivismus
Dem von Rawls entworfenen Szenario wurde eine ganze Reihe an Vorwürfen entgegengebracht, die hier nicht weiter diskutiert werden können [4, S. 752—770; 8; 11, S. 206—218]. Stattdessen interessieren uns vor allem die Einwände, die sich gegen den Versuch richten, den rawlsschen Ansatz auch auf moralische Grundsätze auszudehnen. Da Rawls in seinem ersten Buch nur minimale Informationen zulässt, kann den Kritikern zufolge die Brauchbarkeit der rawlsschen Theorie hinsichtlich der Bestimmung und Anwendung moralischer Grundsätze grundsätzlich bezweifelt werden, besonders da die Probleme in der Anwendung der Grundsätze auf spezifische Situationen bestehen. Aus diesem Grund wird die Frage aufgeworfen, ob die von Rawls in die Diskussion gebrachte vertragstheoretische Form überhaupt dazu geeignet ist, moralische Urteile bzw. Grundsätze zu bestimmen. Ein Hauptproblem, das dagegen spricht, ursprüngliche Theorie auf weiter gefasste moralische Grundsätze auszudehnen, ist darin gesehen worden, dass die Mitglieder des Urzustandes ex suppositione aneinander uninteressiert sind [4, S. 764]. Rawls versucht dem in späteren Texten Abhilfe zu verschaffen, indem er seine Position revidiert und zusätzliche Elemente der kantischen Philosophie integriert. Seiner Meinung nach ist die kantische Form des Konstruktivismus wesentlich durch einen bestimmten Begriff der Person als Element eines vernünftigen Konstruktionsverfahrens ausgezeichnet. Der Grundgedanke des kantischen Konstruktivismus besteht Rawls zufolge darin, zwischen den obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen und dem Begriff der moralischen Person als freier und gleicher eine Verbindung herzustellen. Diese Verbindung soll durch ein Konstruktionsverfahren besorgt werden, in dem rationale, autonome Akteure unter vernünftigen Bedingungen öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen zustimmen [13, S. 133].
Aber auch die Neuerungen, die Rawls in seiner Theorie verankert hat, können nach Ansicht seiner Kritiker ihre wesentlichen Defizite nicht beheben. Hinzu kommt, dass die — wie diese Untersuchung zeigen soll auch zurecht — von Rawls zunehmend angenommene Zurückhaltung hinsichtlich einer moralphilosophischen Erweiterung seiner Theorie die Hoffnungen, die von einigen auf ihn gesetzt wurden, mehr und mehr enttäuscht hat[2].
Die von seinen Kritikern herauskristallisierten Schwachpunkte der rechtfertigungstheoretischen Voraussetzungen sowie die durch die rawlssche Theorie abgedeckten und verfolgten Ziele bilden jedoch den Ausgangspunkt für die nachfolgende Diskussion. Im Anschluss und als Reaktion auf die an Rawls geübte Kritik gewinnt insbesondere ein gezieltes Zurückgehen zur kantischen Theorie in der aktuell geführten Debatte in der Moralphilosophie an Relevanz[3]. Neben Rawls selbst versuchen z. B. Onora O’Neill und Thomas E. Hill im englischsprachigen Raum und Rainer Forst in Deutschland mit ihren Ansätzen zu zeigen, dass von der Verwendung kantischer Theorieelemente neue Lösungen für systematische Probleme in der praktischen Philosophie zu erwarten sind.
Thomas E. Hill knüpft mit seinem Ansatz direkt an die rawlsschen Überlegungen an. Doch ist Hill der Ansicht, dass die rawlssche Frage nach gerechten Institutionen — genauso wie andere Voraussetzungen der rawlsschen Theorie — vernachlässigt bzw. modifiziert und durch moralische Probleme jenseits von Gerechtigkeitsfragen ersetzt werden können. Hill will die rawlssche Strategie in dessen kantischer Form als grundsätzlich moralische Theorie nutzbar machen, wobei er vor allem in dem Versuch, eine Rechtfertigungsstrategie ausgehend von idealisierten Akteuren zu entwerfen, Entwicklungspotenzial sieht. Das macht seiner Meinung nach Hoffnung auf moralische Objektivität, ohne starke metaphysische Voraussetzungen, so wie diese von moralischen Realisten herangezogen werden [4, S. 757]. Einen Ansatzpunkt zum Ausbau der rawlsschen Theorie sieht Hill in der kantischen Vorstellung eines Reichs der Zwecke [4, S. 766]. Bei Kant haben die Gesetzgeber Hill zufolge Interessen, die über die primären Güter hinausgehen, da sie die rationale Natur des Menschen als einen Wert an sich betrachten. Daher sind sie sich gegenseitig nicht gleichgültig, sondern darum bemüht, das Wohl der anderen zu fördern. In der kantischen Vorstellung eines Reichs der Zwecke entdeckt Hill ein heuristisches Modell für eine angemessene moralische Haltung, die angesichts einer Entscheidung ausgehend von grundsätzlichen moralischen Prinzipien zu angemessenen spezifischen Prinzipien angenommen werden muss. Ausgehend von dem an Kant orientierten Modell lassen sich nach Hill zahlreiche wertvolle moralische Grundsätze etablieren, so beinhaltet der von Kant propagierte Begriff der Rationalität zwar eine Mittelwahlrationalität, darüber hinaus aber auch die Disposition einander als rationale Subjekte zu achten, zu erhalten und zu respektieren. Die Akteure im Reich der Zwecke betrachten ihre rationale Natur als einen Zweck an sich [4, S. 767].
O’Neill richtet sich in ihrer Kritik an Rawls vor allem gegen Idealisierungen, wie sie z. B. mit dem Konzept einer moralischen Person verbunden sind oder wie sie in den idealisierten Ansprüchen an die Individuen im Urzustand gesehen werden können. Dagegen betont sie den Unterschied zwischen solchen idealen und tatsächlich abstrakten Voraussetzungen bzw. Grundsätzen. Ferner weist sie das von Rawls vertretene Konzept der Rationalität sowie die behauptete gegenseitige Unabhängigkeit der Subjekte im Urzustand zurück. Stattdessen fordert sie eine konstruktivistische Theorie, die unabhängig von transzendenten moralischen Ansprüchen bestehen kann und mittels einer Abstraktion von den bestimmten Wünschen und Bedürfnissen der Akteure faktisch minimale Bedingungen als Ausgangssituation formuliert. Daraus folgt ihrer Meinung nach, dass die Ergebnisse einer hypothetischen Wahl der Individuen unbestimmt bleiben und das Verfahren der Konstruktion sich daher auf modale Fragen zurückziehen muss. Entscheidend sind für sie vor allem zwei Merkmale, nämlich einerseits Universalität und andererseits Reziprozität der Grundsätze[4], sodass diejenigen Grundsätze zurückzuweisen sind, die nicht von allen angenommen und befolgt werden können [12, S. 355 ff][5].
Genauso wie O’Neill hebt Rainer Forst auf Universalität und Reziprozität als Kriterien einer rationalen Rechtfertigung ab. Doch im Gegensatz zu O’Neill sucht Forst seine Theorie durch weitere Elemente der kantischen Theorie — insbesondere die kantische Lehre vom Faktum der Vernunft — zu flankieren. Forst streicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung der praktischen Vernunft heraus. Unter praktischer Vernunft will er „das grundlegende Vermögen verstehen, praktische Fragen auf die jeweils den praktischen Kontexten, in denen sie entstehen und zu verorten sind, auf angemessene Weise mit rechtfertigenden Gründen zu beantworten“ [3, S. 31]. Die Verbindung zwischen Vernunft und Moral sieht Forst darin, dass rechtfertigende Gründe prinzipiell jeder vernünftigen Person zugänglich und grundsätzlich annehmbar sein müssen. Entsprechend wird die moralische Gemeinschaft als Rechtfertigungsgemeinschaft gedeutet und der Geltungsanspruch einer moralischen Norm besagt demzufolge, dass niemand sogenannte gute Gründe hat, gegen diese Norm zu verstoßen. Entscheidend für diese diskurstheoretische Variante des Konstruktivismus ist, dass die Rechtfertigung als ein diskursiver Prozess verstanden wird, der sich auf die Respektierung gerechtfertigter Ansprüche verletzbarer Wesen beruft und ihre Ansprüche direkt in die moralische Rechtfertigung einfließen lässt [3, S. 35]. Diesen verletzbaren Personen sind wir als Menschen Rechtfertigungen schuldig. Darin drückt sich Forst zufolge die Achtung der moralischen Personen als Zwecke an sich selbst aus [3, S. 75 ff]. Als wichtige Voraussetzung seines Konstruktivismus streicht Forst die Autonomie der Moral selbst heraus, d. h. auch, dass es keine objektive Wertordnung gibt, die dem Rechtfertigungsverfahren vorausgesetzt wäre [3, S. 81]. Auf diese Weise glaubt Forst, sich „keinen unnötigen metaphysischen Ballast aufzuladen“ [3, S. 83] und eben damit „Kant sozusagen vom transzendentalen Kopf auf die sozialen Füße zu stellen“ [3, S. 81].
3. Kritik am Konstruktivismus
Im Folgenden sollen einige Kritikpunkte umrissen werden, die sich gegen den Versuch richten, den Konstruktivismus auf moralische Grundsätze auszudehnen. Dabei richtet sich die Kritik sowohl an die späte rawlssche Theorie als auch an die von seinen Nachfolgern vorgeschlagenen Modifikationen und Revisionen. Im Anschluss werden einige grundsätzliche Überlegungen zu konstruktivistischen Versuchen, Moralische Grundsätze diskursiv oder konstruktiv zu rekonstruieren vorgestellt.
1. Indem sich Rawls und Hill von dem ursprünglichen Vorhaben entfernen, die rationalen Grundsätze allein durch Rekurs auf den instrumentellen Vernunftgebrauch der Akteure zu begründen, setzen sie sich zugleich dem Vorwurf aus, ungerechtfertigte Idealisierungen vorzunehmen und ihren Konzeptionen unbewiesen zugrundezulegen. Im selben Maß verlieren beide Positionen damit in den Augen ihrer Kritiker an Überzeugungskraft. Denn sowohl Rawls, der in seinem erneuerten Ansatz, den kantischen Begriff der Person und die damit einhergehende Bestimmung, den Menschen immer nur als Zweck an sich zu betrachten, als auch Hill, der die Orientierung an einem Reich der Zwecke vorschlägt, entfernen sich von der ursprünglich propagierten reinen Mittelwahlrationalität der Akteure, die ex suppositione nur ihr eigenes Wohlergehen im Blick haben sollen. Denn was soll einen Akteur dazu veranlassen, sich selbst in einem Reich der Zwecke zu sehen bzw. jeden anderen nur, als einen Zweck an sich selbst zu betrachten, der dem eigennützigen Streben nicht unterworfen werden darf, sobald die auf dem teleologischen Aspekt der Vernunft basierende Begründungsleistung der Vernunft in Abrede gestellt wird? Hill selbst spricht das Problem an und sieht darin einen Grund für die rawlssche Zurückhaltung, sein Modell zur Generierung moralischer Grundsätze anzuwenden. Offensichtlich bleibt die Vorstellung eines Reichs der Zwecke, in dem jeder Akteur nur als Zweck an sich selbst betrachtet werden darf, ohne weitere metaphysische Grundlagen ungerechtfertigt, sodass die Kluft zwischen einem intelligiblen Reich der Vernunft, dem Reich der Zwecke, und einer als solchen ausgezeichneten „Realität“, in der jeder einzelne Akteur nur nach seinem beliebig gesetzten Nutzen strebt, auf diese Weise nicht überbrückt werden kann, was Hill schließlich zu dem Schluss verleitet, Kant sei sich des Problems des moralischen Skeptikers nicht bewusst gewesen [4, S. 770].
2. Die Schwierigkeiten, mit denen Onora O’Neill sich in ihrer Untersuchung konfrontiert sieht und die darin bestehen, das von ihr konzipierte Rechtfertigungsverfahren auf ein konkretes Problem anzuwenden — insoweit dadurch etabliert werden soll, dass eine mögliche Schädigung ausgeschlossen sein müsse — demonstrieren eindrucksvoll, dass sie mit mindestens einer nicht ausgewiesenen Prämisse arbeitet. Das zeigt sich im Fall der Nichtschädigung als Grundsatz der Gerechtigkeit darin, dass sie neben diesem Grundsatz, der den Kriterien der Allgemeinheit und Reziprozität genügen soll, eine zusätzliche Annahme zugrunde legen muss, um sich auf eine Hierarchisierung möglicher Schädigungen festlegen zu können. Denn woher nimmt sie die Gewissheit, dass Schädigungen an Leib und Leben mehr wiegen als an Besitz und Rang? Nur unter der Voraussetzung, dass das Leben selbst und folglich das Streben nach seiner Erhaltung als basal für die Moralbegründung angenommen werden muss, kann bestimmt werden, welche Schäden wirklich unannehmbar und welche in Kauf genommen werden müssen. Diese nicht ausgewiesene Voraussetzung aber einmal in Rechnung gestellt, macht sie das Streben nach Selbsterhaltung zur unausgesprochenen Grundlage moralischer und rechtlicher Grundsätze und bürdet sich damit die seit der Antike bekannten Probleme auf, die Kant mit seinem Ansatz überwunden hat.
3. Ein damit verwandtes Problem wirft auch die von Forst vertretene Konzeption auf. Forst selbst hebt hervor, dass, wenn der Grund des Moralischseins instrumentell beantwortet wird, keine autonome Begründung der Moral gelingen kann, die diese mit einer kategorischen Geltung ausstatten würde [3, S. 74—75]. Stattdessen bedarf eine selbstständige Moral seiner Meinung nach auch einer eigenen Triebfeder, d.h., sie muss um ihrer selbst willen befolgt werden. Andernfalls wäre sie nur instrumentell und untergeordnet, z. B. der oben herausgestellten Selbsterhaltung oder dem Streben nach Glückseligkeit. „Denn wer die Moral aus anderen Motiven als moralisch heraus befolgt, der befolgt sie nicht; er geht lediglich mit ihr konform“ [3, S. 78]. Zugleich erhebt Forst den Anspruch, Kant von seinem transzendentalen Kopf auf die sozialen Füße zu stellen, indem er das kantische Reich der Zwecke zu einem Raum der gerechtfertigten Ansprüche an endliche und damit auch leidensfähige menschliche Wesen macht.
Kann Forst unter dieser Voraussetzung die von ihm in Anlehnung an die kantische Position geforderte Autonomie der Moral einlösen? Ich denke nicht. Denn auch wenn es für viele verlockend zu sein scheint, sich von den metaphysischen Voraussetzungen der kantischen Moralphilosophie zu verabschieden, um sich auf diese Weise kein Reich der Dinge an sich aufzubürden und zugleich dem Rigorismus und der angeblichen Härt der kantischen Position zu entkommen, so ist es meiner Meinung nach nicht möglich, die von Forst proklamierte Autonomie der Moral einzulösen, sobald das Reich der Zwecke zu einem Reich der Gründe gemacht wird, in dem sich diskursiv moralische Grundsätze konstruieren lassen sollen. Dass wir uns selbst genauso wie alle anderen vernünftigen Wesen immer nur als Zweck und niemals als bloßes Mittel zu betrachten haben, folgt aus dem Sittengesetz, dessen Bewusstsein uns wiederum als Faktum der praktischen Vernunft a priori gegeben ist. Aufgrund seiner Apriorität steht das Sittengesetz aber über jedem sozialen Kontext und ist zugleich fest mit dem transzendentalen Ansatz verwurzelt, der sich wohl nur schwer auf seine „sozialen Füße“ stellen lässt. Denn eine Moral, die ihre Autonomie einem sozialen Kontext verdankt, bleibt diesem Kontext verhaftet, sodass der Kontext selbst, kantisch gesprochen, den materialen Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens liefert und auf diese Weise den von Kant behaupteten genuinen Wert der moralischen Handlung vernichtet.
In seiner Kritik der praktischen Vernunft streicht Kant denn auch heraus, dass sich der sittliche Wert einer Handlung daraus schöpft, „daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme“ [AA, V, S. 71]. Denn wenn die Willensbestimmung nur gemäß aber nicht aufgrund des moralischen Gesetzes selbst geschieht, „so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten“ [AA, V, S. 71]. Indem sich Forst genauso wie O’Neill und Hill, von der kantischen Metaphysik verabschieden, bewegen sie sich nur im Rahmen dessen, was Kant unter Legalität begreift. Von Moralität im kantischen Sinn kann überhaupt nicht mehr die Rede sein. Kant insistiert darauf, dass der Begriff der Pflicht nicht nur eine objektive Übereinstimmung mit dem Gesetz fordert, sondern vor allem an die subjektive Maxime einer Handlung adressiert ist, d.h., Achtung für das Gesetz als den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens fordert. Der Wert einer moralischen Handlung wird von Kant ausschließlich darin gesehen, dass die Handlung aus Pflicht, „d. i. bloß um des Gesetzes willen“ [AA, V, S. 81], geschehe. Demzufolge sind wir in erster Linie gerade nicht anderen Personen, deren Endlichkeit und Verletzbarkeit von Forst herausgestrichen wird, verpflichtet, sondern nur dem moralischen Gesetz. „Ein anderes subjectives Prinzip muß zur Triebfeder nicht angenommen werden, denn sonst kann zwar die Handlung, wie das Gesetz sie vorschreibt, ausfallen, aber da sie zwar pflichtmäßig ist, aber nicht aus Pflicht geschieht, so ist die Gesinnung dazu nicht moralisch, auf die es doch in dieser Gesetzgebung eigentlich ankommt“ [AA, V, S. 82]. Auch Kant ist mit Forst und anderen der Ansicht, dass es sehr schön sei, aus Liebe zu den Menschen und Respekt vor ihrer Endlichkeit ihnen Gutes zu tun, „aber das ist noch nicht die ächte moralische Maxime unsers Verhaltens, die unserm Standpunkte unter vernünftigen Wesen als Menschen angemessen ist“ [AA, V, S. 82]. Als Menschen sind wir Kant zufolge eben nicht anderen Menschen eine Rechtfertigung schuldig und ihnen als moralischen Personen verpflichtet. „Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein dem moralischen Gesetze geben müssen“ [AA, V, S. 82].
Was Forst und mit ihm alle „kantisch inspirierten“ Konstruktivisten, die sich von der kantischen Metaphysik, und d. h. für sie vor allem der transzendental idealistischen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen, verabschieden wollen, mit ihren Konzeptionen überhaupt nur erreichen können, ist Legalität, nicht aber Moralität im kantischen Sinn. Rawls hat somit gut daran getan, seine Konzeption nicht auf moralphilosophische Fragen auszudehnen.
4. Ergebnis
Forst genauso wie O’Neill und Hill ist es demnach nicht gelungen, die rawlssche Konzeption auf Grundsätze der Moral auszudehnen. Stattdessen zementiert sich in ihren Versuchen das grundsätzliche moralphilosophische Scheitern des Konstruktivismus, und zwar nicht deshalb, weil, wie viele Kritiker argwöhnen, der Konstruktivismus überhaupt eine labile Position sei, die sich zwischen Realismus und Relativismus bewege, sondern einzig und allein aus dem Grund, weil die kantische Moralphilosophie ohne Metaphysik — und hier denke ich vor allem an die oben bereits angeführte und für die Transzendentalphilosophie zentrale Unterscheidung in Dinge an sich und Erscheinungen — nicht zu haben ist.
Heißt das aber nun, dass das konstruktivistische Projekt insgesamt als gescheitert zu beurteilen ist? Das muss nicht sein. Gescheitert ist meiner Meinung nach lediglich das von einigen Konstruktivisten proklamierte Ziel, Gerechtigkeit und Tugend in einer auf minimale metaphysische Voraussetzungen zurückgreifenden Rekonstruktion vernünftiger Grundsätze zusammenzuführen. Vielmehr untermauert ihr Scheitern eindruckvoll gerade diese Trennung.
Was der Konstruktivismus vielleicht wirklich leisten kann, ist die Rechtfertigung von Grundsätzen der Gerechtigkeit[6]. Das von Forst gewählte Verfahren unter Rückgriff auf das Faktum der Vernunft und der damit einhergehenden Stärkung der praktischen Vernunft sowie die von ihm vorgenommene Umformulierung des Reichs der Zwecke zu einem Raum von einforderbaren und geschuldeten Gründen kann in diesem Sinne als ein vielversprechender Ansatz gelten. Wichtig ist hier jedoch zu beachten, auch diejenigen Grundannahmen zu explizieren, die in den jeweiligen Ansätzen präsupponiert werden, wie z. B. das Selbsterhaltungsstreben oder das egoistische Streben nach Eigennutz, das vielleicht auch hinter der von Forst in Anschlag gebrachten ersten Zustimmung zum Faktum der Vernunft steht. Denn mit Hobbes gesprochen, wer „seinen Vertrag bricht und folglich erklärt, daß er meint, er könne es mit gutem Grund tun, kann nicht in einer Gesellschaft aufgenommen werden, die sich um des Friedens und der Verteidigung willen zusammenschließt“ [5, S. 122] und kann folglich auch wie ein Wolf oder jede andere Bestie erschlagen werden. Das so verstandene Faktum der Vernunft, d. h. im Sinne einer Zustimmung darin, in einen vernünftigen Diskurs einzutreten, und den Mitgliedern desselben ein Recht auf Rechtfertigung zuzugestehen, muss durchaus als Ausdruck menschlicher Klugheit gelten. Denn dem Amoralisten, der sich durch das Faktum der Vernunft nicht angesprochen fühlt und sich selbst aus der Gemeinschaft des Rechts ausschließt, kann man mit Hobbes entgegnen, „daß er gerechterweise getötet werden darf“ [5, S. 592]. Unter dieser Perspektive erscheint es daher durchaus als klug, seine prinzipielle Zustimmung zur Gerechtigkeit zu geben, um sich selbst nicht jenseits der menschlichen Gesellschaft zu stellen und die damit einhergehenden Vorteile zur Erhaltung der eigenen Natur sowie zur Förderung des eigenen Glücks nicht zu verlieren[7].
Literaturverzeichnis
1. Blackburn S. Ruling Passions: A Theory of PracticalReasoning. Oxford, New York: Oxford University Press, 1998.
2. Düwell M. u.a. (Hg.) Handbuch Ethik. Stuttgart: Metzler, 2002.
3. Forst R. Das Recht auf Rechfertigung, Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
4. Hill T. E. Jr. Kantian Constructivism in Ethics // in Ethics 99 (1989), 752.
5. Hobbes T. Leviathan. Hamburg: Meiner, 1996.
6. Horkheimer M. Vernunft und Selbsterhaltung // Ebeling H. (Hrsg.) Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. S. 41—75.
7. Kant I. Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / von der Deutschen / Göttinger Akademie der Wissenschaften, Berlin-Leipzig, G. Reimer 1900 f. Berlin, De Gruyter 1967 f.
8. Kerstin, W. John Rawls zur Einführung. Hamburg: Junius, 2001.
9. Locke J. Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. II (Buch III und IV). Hamburg: Meiner, 1988.
10. O’Neill O. Constructions of Reason, Cambridge: Cambridge University Press, 1989.
11. O’Neill O. Towards Justice and Virtue — A constructive account of practical reasoning. Cambridge: Cambridge University Press, 2002.
12. O’Neill O. Constructivism in Rawls and Kant // Freeman, S. R. (Hg.) The Cambridge Companion to Rawls. Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Р. 347—367.
13. Rawls J. Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie // Hinsch W. (Hg.) Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992. S. 80—158.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Hahmann, Andree. Rationalitӓtsbegründung und Eigennutz — was bleibt von der kantischen Vernunft im Konstruktivismus?// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 1, S. 415 – 428.
[1] Ich denke hier vor allem an Spinoza und Hobbes.
[2] Rawls hat niemals den Anspruch erhoben, moralische Probleme lösen zu können, indem diese in einer idealisierten Wahlsituation behandelt werden, noch, dass die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit dazu genutzt werden können, individuelle Handlungen in spezifischen Situationen anleiten zu können. Stattdessen strebt Rawls einen Kern politischer Prinzipien an, die von verschiedenen moralischen Ausgangspunkten aus erstrebenswert und vernünftig erscheinen und daher auf öffentliche Zustimmung hoffen dürfen. Andererseits werden Erweiterungen der ursprünglichen Theorie von Rawls nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vgl. hierzu Hill [4, S. 754ff.].
[3] Aber auch die Humesche Theorie wird von den konstruktivistischen Ansätzen nicht unberücksichtigt gelassen. So ziehen die meisten der heutigen konstruktivistischen Moraltheorien, die sich nicht auf Konsens oder Zustimmung der betreffenden Akteure berufen, eine Gefühlsgrundlage heran, und zwar ausdrücklich im Namen Humes. Die Angemessenheit einer solchen Grundlage wird von Hume selbst hingegen in seiner Rechtsphilosophie bestritten und widerlegt. Vgl. Blackburn [1].
[4] Beide Aspekte werden auch von Rainer Forst in seinem konstruktivistischen Ansatz betont.
[5] Sowie [10, S. 45]. Konstruktivisten sind anders als Naturalisten und Intuitionisten nicht der Meinung, dass moralische Wahrheiten oder Tatsachen unabhängig von den Urteilen, die über sie gefällt werden, existieren. [2, S. 13f].
[6] Hier sei z. B. an die von Reich und Ebbinghaus vertretene „Unabhängigkeitsthese“ erinnert, der zufolge die kantische Rechtsphilosophie auch unabhängig vom transzendentalen Idealismus Bestand haben kann.
[7] Damit liegt der Verdacht nahe, dass die Ansätze, die sich selbst als kantisch motiviert erachten, vielmehr Hobbes als Kant verpflichtet sind.