Alexei Krouglov. Das Problem des Friedens am Ende des 19. — am Anfang des 20. Jahrhunderts im Dialog der drei Zaren: I. Kant, Nikolaus II. und L. N. Tolstoj
Noch zu den Lebzeiten wurde Kant nicht selten als Caesar unter den Weisen (Ungarn-Sternberg, 1796) genannt, aber auch ein Jahrhundert nach seinem Tod blieb er für viele nach wie vor ein Zar auf dem Lehrstuhl (Stein, 1898). Damals gab es unter den Lebenden, wie ein Zeitgenosse schlagartig zum Ausdruck brachte, zwei Zaren: „Zwei Zaren haben wir: Nikolaus II. und Leo Tolstoj“ (Suworin, 1902, s. 316). Die beiden haben bei allem Antagonismus gegeneinander die berühmte kantische Abhandlung Zum ewigen Frieden auf eine eigenartige Weise berücksichtigt.
1. Für die frühe internationale Politik des Nikolaus II. waren einige heute in Vergessenheit geratene Initiativen gekennzeichnet, die ein großes internationales und gesellschaftliches Echo gefunden haben. Die wichtigste davon ist das russische Memorandum aus dem Jahre 1898 über die Notwendigkeit der Einberufung der Konferenz über das Problem des Friedens und der Abrüstung sowie die Einberufung der 1. Friedenskonferenz in Haag im Jahre 1899.
Die philosophische Reaktion auf diese Vorschläge des Nikolaus II. und seiner Umgebung hat gezeigt, daß zwischen diesen Initiativen und dem Friedensprojekt Kants mehrere Parallelen entdeckt worden sind: Der Zar auf dem Thron gibt seine brüderliche Hand dem Zar auf dem Katheder (Stein, 1898). Es wurden auch wietere ungewöhnliche Übereinstimmungen von Manifest mit dem Kantischen Entwurf gezeigt. Die Zeitschrift Kant-Studien hat darüber eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht (Vaihinger, 1899, S. 256—258; Vaihinger, 1900, S. 60). Auch in den russischen theologischen und philosophischen Kreisen wurde diesen Vorschlägen und dieser Konferenz im Kontext des Entwurfs Kants eine Aufmerksamkeit geschenkt (Tichomirov, 1899).
2. Die größere philosophische Bedeutung hat aber nicht diese Reaktion sondern das Friedensprojekt Tolstojs (Krouglov, 2008; Krouglov, 2010; Krouglov, 2012a, s. 122—159), das für manche große historische Persönlichkeiten im 20. Jahrhundert als Vorbild diente, und zwar im dessen Zusammenhang zur Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden. Im Unterschied zu Kant sind die pazifistischen Einsichten Tolstojs nicht in einem Werk systematisch konzentriert. Sie sind eher in mehreren Aufsätzen und größeren Werken verstreut (Ich kann nicht schweigen, Merkblatt für die Soldaten, Merkblatt für die Offiziere, Besinnt euch! usw.).
Wenn Kant das Völkerrecht als wesentliches Mittel gegen die Kriege das Völkerrecht betrachtet (TP. A 282)1[1]und einen Vertrag zum ewigen Frieden entwirft, ist Tolstoj Rechtsprojekten gegenüber sehr skeptisch (Tolstoj, 1956a, s. 90). Er gestaltet sein Projekt nicht juristisch sondern vielmehr moralisch und religiös (Tolstoj, 1952b, s. 282). Tolstoj lehnt das kantische juristische Mittel zum ewigen Frieden ab (Tolstoj, 1936a, s. 558). In seiner eigenen Auffassung des Friedens und des Weges zum Frieden stützt sich Tolstoj aber eben auf die ethischen und die religiösen Vorstellungen Kants. Tolstoj sah eine allmähliche mühsame Lösung des Problems des Krieges auf dem Wege der freien Erfüllung seiner Pflicht, von der das moralische Gesetz sagt, von jedem einzelnen Menschen sowie einer Annäherung der allgemeinen Vernunftreligion im kantischen Sinne.
3. Zu den Hauptunterschieden, die in Friedensprojekten Kants und Tolstojs bei allen Ähnlichkeiten und Parallelen vorhanden sind, gehört in erster Linie eine diverse Wahrnehmung und Auffassung des Rechts von den beiden Denkern (Krouglov, 2012b). Kant hat nie die Einteilung des Rechts in das Naturrecht und in das positive Recht und die Existenz des ersten bezweifelt. Ein Jahrhundert später hat Tolstoj zu einer Zeit der Krise und der Ablehnung des Naturrechts gelebt. Das hat den ehemaligen Jura-Studenten in seiner Rezeption juristischer Friedensentwurfe sicherlich beeinflußt.
Der Unterschied zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht ist für Kants Lehre prinzipiell: Nur das erste stützt sich auf apriorische Prinzipien, und nur mit dessen allmählichen Verwirklichung in der Geschichte verbindet Kant seine Hoffnungen auf den Vorschritt. Für ihn ist kaum eine Situation vorstellbar, bei der das Recht ausschließlich als ein positives gedeutet wird, d. h. ohne jegliche Existenz des Naturrechts. Das Naturrecht bezieht sich bei Kant so oder anders auf die Sittlichkeit und auf die Religion, dessen Gründe sind apriorisch, es ist auf der (äußerlichen) menschlichen Freiheit gegründet. Im allgemeinen Bild spielt die Moral dabei eher eine dominante Rolle, obwohl Kant auch schwierige Fälle und graue Zonen kennt (MS. RL. B 39—40). Unterschwellig versteht das auch Tolstoj, indem er bemerkt: „Auch Kant verliert nie den Standpunkt der Sittlichkeit“ (Makovickij, 1910, s. 99).
Die historische Situation von Tolstoj ist durch den Sieg der positivistischen und historischen Rechtskonzepten bestimmt: „…was man Recht nennt, druckt sich in Gesetzen aus, die entweder von einzelnen Menschen, oder von streitenden Parlamentsparteien ausgedacht werden…“ (Tolstoj, 1936c, s. 57); „die von Gewalt leben und die deshalb diese Gewalt mit den Gesetzen bewahren. Diese Gesetze werden von ihnen, von denselben Menschen, auch vollgezogen… solange diese Gesetze für sie vorteilhaft sind; werden sie aber für sie unvorteilhaft, so denken sie die neuen aus, die sie für nötig finden“ (Tolstoj, 1936c, s. 56). Einem solchen juristischen Gesetz, dem ‚Gesetz der Gewalt’ stellt Tolstoj das moralische Gesetz, das ‚Gesetz der Liebe’ gegenüber (Tolstoj, 1956c).
Der Schriftsteller hat denjenigen Rechtszustand festgestellt, der in seiner Zeit befestigt wurde und noch heute besteht: Im Laufe der Geschichte hat das Recht außerordentliche Ansprüche gehabt, deren Begründung in den Vorstellungen von dessen göttlichem Ursprung oder zumindest in der Konzeption des Naturrechts zu suchen wäre. In der Zeit der Desakralisierung der Rechtsquellen und der Ablehnung vom Naturrecht sind die Rechtsansprüche jedoch erhalten geblieben und sogar verstärkt worden, obwohl jede vorige Begründung abgelehnt wurde. Worauf sie jetzt beruhen, ist schwer zu verstehen. Diese Frage wurde zu der Zeit Tolstojs als ‚nihilistisch’, heute aber wird als ‚barbarisch’ bzw. ‚nicht zivilisiert’ wahrgenommen. Es ist auf dem Beispiel der berüchtigten Konzeption der ‚heiligen’ Menschenrechte besonders bemerkbar, die zu einer bürgerlichen Pseudoreligion der Bürgerrechtler und der Indoktrinäre der ruhmreichen und sieghaften Demokratie mutiert hat.
Wäre aber das Naturrecht im Sinne Kants zu der Zeit Tolstojs in keine Krise geraten, wäre ein prinzipieller Unterschied zwischen den beiden Denkern trotzdem geblieben. Während das Recht von Kant fast vergöttlicht wird, ist dem Tolstoj die Einstellung von Wladimir Solowjow (1853—1900) viel näher: „Die Aufgabe des Rechts besteht gar nicht darin, die im Bösen liegende Welt ins Gottesreich zu verwandeln, sondern nur darin, damit sie — vor der Zeit — nicht zur Hölle würde” (Solov’ëv, 1897, s. 454). Eine solche Auffassung des Rechts verändert ganz wesentlich auch die Ansicht auf Kants Projekt des ewigen Friedens — sowohl in der Zeit seines Verfassers, als auch heute.
Bibliographie
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Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Krouglov A. Das Problem des Friedens am Ende des 19. — am Anfang des 20. Jahrhunderts im Dialog der drei Zaren: I. Kant, Nikolaus II. und L. N. Tolstoj// Kant’s Project of Perpetual Peace in the Context of Contemporary Politics : proceedings of international seminar/ ed. by A. Zilber, A. Salikov. — Kaliningrad : IKBFU Press, 2013. S. 40 – 44.
1[1]Kants Werke werden nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel mit der dort verwendeten Pagination zitiert. А bezeichnet die erste Ausgabe, und В — die zweite.