A. Salikov. Kants Friedensprojekt und die Ansätze zur Lösung des Sicherheitsdilemmas in der modernen Theorie der internationalen Beziehungen
Das Sicherheitsdilemma ist ein viel diskutiertes Problem in der modernen Theorie der internationalen Beziehungen (ferner — IB-Theorie). Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen bedeutet das Sicherheitsdilemma eine unvermeidliche Notwendigkeit, ein Beziehungsmodell hinsichtlich eines anderen Staates zu wählen: auf der Basis der Kooperation, des Wettbewerbes oder der Konfrontation. Dabei ist diese Wahl unter Umständen des Mangels und der Unvollständigkeit der Information über die Absichten von anderen Akteuren zu treffen, was potenziell zu einer Konfrontation, zur Steigerung der Militärausgaben und, schlimmstenfalls, zum Krieg führen kann (Booth, Wheeler, 2008, P. 1—18). Der Versuch, das Sicherheitsdilemma zu lösen, wird in mehreren Paradigmen der IB-Theorie unternommen: die wichtigsten Ansätze werden im vorliegenden Artikel kurz skizziert. Außerdem wird im Aufsatz auch der Versuch unternommen, eine Analyse der Möglichkeit zu liefern, das Sicherheitsdilemma von dem Gesichtspunkt der Philosophie Kants zu lösen. Das scheint aus zwei Gründen von Bedeutung zu sein: 1) Nach allgemeiner Ansicht war Kant der Erste, der auf das Problem, das die Grundlage des Sicherheitsdilemmas ausmacht, hingewiesen hat, lange vor dem deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler John Herz, der es 1951 erstmals in moderner Gestalt formuliert hat (Herz, 1950; Herz, 1951); 2) Immanuel Kant gilt als einer der Väter der Liberalen Strömung (und vor allem der Theorie des demokratischen Friedens) in der IB-Theorie, die einen der wichtigsten Ansätze zur Lösung des Sicherheitsdilemmas erarbeitete. Allerdings gibt es mehrere Gründe, daran zu zweifeln, ob der Liberalismus die Ideen Kants adäquat und korrekt interpretiert (etwa die Aufsätze von Luigi Caranti und von Lothar Brock im vorliegenden Band, auch Salikov, 2012).
Realismus
Innerhalb der realistischen Denkschule unterscheiden die Forscher den offensiven Realismus und den defensiven Realismus, die die Logik des Sicherheitsdilemmas in den internationalen Beziehungen auf eine unterschiedliche Weise interpretieren (Lancov, Usmonov, 2013). Der offensive Realismus betrachtet die Macht als eine Triebkraft, die das Verhalten der Staaten unter den Bedingungen der Anarchie des internationalen Systems bestimmt. Den Anhängern des offensiven Realismus zufolge befinden sich die Staaten im Zustand einer permanenten Konkurrenz miteinander, um das höchstmögliche Niveau an Sicherheit zu erreichen, wobei die offensiven Realisten die Möglichkeit einer erfolgreichen internationalen Mitarbeit verneinen und den Zustand eines dauerhaften und stabilen Friedens für unerreichbar halten (Lancov, Usmonov, 2013). Die Anhänger des defensiven Realismus halten es hingegen für zweckmäßig, nicht nach einer absoluten, sondern nach einer relativen Machtüberlegenheit zu streben. Selbst die Existenz des Sicherheitsdilemmas führt ihrer Meinung nach nicht zu einer Steigerung der Konfrontation in den internationalen Beziehungen (Lancov, Usmonov, 2013). Die wirtschaftlich und militärisch mächtigen Staaten werden nicht unbedingt grobe Machtmittel anwenden, um die Welthegemonie zu erreichen, weil es zur Vereinigung von schwächeren Staaten in Verteidigungsbündnisse gegen die stärkere Hegemonialmacht führen könnte. Die defensiven Realisten halten die Anarchie in den internationalen Beziehungen nicht für unüberwindlich und betrachten das Phänomen der Sicherheit als einen relativen und nicht als einen absoluten, durch die Machtüberlegenheit bedingten Begriff. Deshalb seien die Perioden der Stabilität und Kooperation zwischen den Staaten erreichbar und real (Lancov, Usmonov, 2013). Trotz aller Unterschiede zwischen dem offensiven und dem defensiven Realismus nimmt keiner von beiden die Möglichkeit einer endgültigen Lösung des Sicherheitsdilemmas an. In diesem Sinne sieht das Sicherheitsdilemma vom Gesichtspunkt der Realisten als prinzipiell nicht lösbar aus.
Theorie des demokratischen Friedens (Liberalismus)
Der liberalen Theorie des demokratischen Friedens (ferner — DF-Theorie) nach sind die Beziehungen innerhalb der Gruppe der demokratischen Staaten immer friedlicher und öfter auf Kompromisse gegründet als die Beziehungen zwischen nichtdemokratischen Ländern oder innerhalb einer gemischten Gruppe von demokratischen und nichtdemokratischen Staaten. Einen positiven Einfluss auf die friedliche Lösung des Sicherheitsdilemmas sollte auch die Einbeziehung der demokratischen Staaten in den Welthandel und somit ein höherer Grad an Interdependenz der demokratischen Staaten haben: die Handelspartner betreiben eine friedlichere Außenpolitik in Bezug aufeinander, weil ein Krieg wesentliche finanzielle Verluste bedeuten würde. Außerdem sind demokratische Länder mit mehreren internationalen Organisationen verbunden, die es erlauben, Konflikte noch in ihren frühen Stadien friedlich beizulegen, und die notwendigen Einflussmittel auf ihre Mitglieder haben. Alle diese Argumente berechtigen die Anhänger der DF-Theorie zu behaupten, dass die Lösung des Sicherheitsdilemmas in der Demokratisierung unseres Planeten liegt: Sobald alle Staaten der Erde demokratisch werden, wird auch das Sicherheitsdilemma sich von selbst lösen.
Der Optimismus der Vertreter der DF-Theorie wird aber von den Neorealisten nicht geteilt, denn sie glauben, dass der Demokratisierungsprozess keinen wesentlichen Einfluss auf die anarchische Struktur der Welt sowie auf den Stil der internationalen Beziehungen ausüben kann (Waltz, 2000, p. 10). Viele Wissenschaftler sind der Auffassung, dass es nicht möglich sei, die Staaten nach ihrem Wesen als kriegerisch oder friedlich zu charakterisieren oder über die größere Friedlichkeit von irgendwelchen Formen der Staats-, Wirtschafts- oder Regierungsorganisation zu sprechen. Diese Schlussfolgerungen lassen sich durch konkrete Untersuchungen der Kriege und der bewaffneten Konflikte vom XVIII. Jahrhundert an bis zum XX. Jh. inklusive (Russett, Starr, 1981) belegen. Außerdem kann die Friedlichkeit der Demokratien auch von der Gesichtspunkt der Friedlichkeit der Mitglieder eines homogenen Systems (d. h. eines Systems mit einem hohen Grad der Gleichartigkeit in Hinsicht der politischen Regime der Beitrittsstaaten, der Wirtschaftsformen, der Ideologien, der Kultur usw.) zueinander erklärt werden. Es liegt auf der Hand, dass die gleichartigen Systeme sich als stabiler und weniger kriegerisch als die heterogenen Systeme erweisen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob dieses homogene System ein demokratisches, ein sozialistisches oder ein faschistisches System ist. Somit erweist sich der Ansatz der DF-Theorie in Bezug auf das Sicherheitsdilemma als ziemlich einseitig, weil diese Theorie die Lösung des Sicherheitsdilemmas nur im Falle der Beziehungen zwischen Demokratien voraussetzt. Wenn wir aber den Fall der Beziehungen zwischen Demokratien und Nichtdemokratien oder nur zwischen Nichtdemokratien nehmen, so kann die DF-Theorie keine Basis für den Aufbau eines dauerhaften Friedens bieten.
Regimetheorie (neoliberaler Institutionalismus)
Die Regimetheorie (wie übrigens der Institutionalismus insgesamt) nimmt eine Mittelstellung zwischen Realismus und Liberalismus ein: Sie hält eine Kooperation zwischen Staaten für prinzipiell möglich, zwar nicht von einer „realistischen“, jedoch von einer „liberalen“ Grundlage aus. Diese Tendenz ist auch im Ansatz der Regimetheorie zur Lösung des Sicherheitsdilemmas zu beobachten, der in sich sowohl realistische als auch liberale Einstellungen verbindet, aber von beiden abweicht. Genauso wie der Realismus definiert die Regimetheorie den Charakter der internationalen Beziehungen als Anarchie und hält die Staaten für Hauptakteure der internationalen Prozesse, die daran interessiert sind, rationale Handlungen in den Beziehungen zu den anderen Staaten zu vollziehen. Doch im Unterschied zum Realismus hält die Regimetheorie das Sicherheitsdilemma für prinzipiell lösbar. Diese Lösung sehen die Anhänger der Regimetheorie in der Verrechtlichung und Verbesserung der Kooperation zwischen Staaten. Der Meinung der Anhänger der Regimetheorie nach befinden sich alle Staaten der Welt in einer Lage der gegenseitigen Abhängigkeit: die maximal rationale Handlung für die Minimisierung des Sicherheitsrisikos sei also die internationale Kooperation, die durch internationale Institute, die eine regulierende Funktion auf der Ebene der internationalen Beziehungen spielen, zu sichern ist. Während die Existenz und Wirksamkeit dieser Institute von einem oder mehreren führenden Staaten unterstützt wird, sollen sie die Zusammenarbeit zwischen Staaten koordinieren. Mit dem Lauf der Zeit wird diese Zusammenarbeit immer effizienter und dadurch das Sicherheitsdilemma überwunden.
Konstruktivismus
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass die Lösung des Sicherheitsdilemmas von der Identität des Staates abhängig sei. Die Konstruktivisten glauben, dass die Interessen eines Staates mit seiner Identität eng verbunden seien. Diese Identität sei ihrerseits nicht unveränderlich und befinde sich im ständigen Prozess der Transformation. So sei das Verhalten der Staaten auf der internationalen Bühne von mehreren Motiven beeinflusst, und zwar nicht nur von ökonomischen und innenpolitischen Faktoren, sondern auch von solchen Phänomenen wie Kultur, nationale Psychologie, Ideologie usw., die die Identität eines Staates bilden. Im Großen und Ganzen ist es den Konstruktivisten gelungen, durch diese Verbindung der strategischen Wahl der Staaten mit den Besonderheiten ihrer Identitäten eine alternative Erklärung für ihr Verhalten in der Situation des Sicherheitsdilemmas anzubieten. Allerdings gab es Schwierigkeiten hinsichtlich der Formalisierung der von den Konstruktivisten erhobenen Argumente sowie ihrer Prüfung, weil die Identität sich sehr schwer mit Hilfe von quantitativen Methoden messen oder als Modell formalisieren lässt. Die Methode der qualitativen Analyse erwies sich im Vergleich mit der quantitativen Methode als effizienter; andererseits fehlte ihr wegen der deutlich breiteren Interpretation von Ergebnissen aber die notwendige Strenge der Argumentation (Timofeev, 2013, S. 49). Allem Anschein nach ist der konstruktivistische Ansatz zur Analyse des Sicherheitsdilemmas eben aus diesem Grund keine vollwertige Alternative zu anderen Ansätzen, solange keine adäquaten formalisierten Modelle des Einflusses der Identität auf die strategische Wahl der Staaten angeboten werden (Timofeev, 2013, S. 49).
Immanuel Kant
Der Begriff des Sicherheitsdilemmas taucht nirgendwo in Kants Schriften auf. Dennoch gibt es mehrere Stellen in seinen Werken, die einen Schlüssel für die Lösung des Sicherheitsdilemmas von dem Gesichtspunkt seiner Philosophie aus geben könnten. Es geht in erster Linie um zwei Werke Kants: „Zum ewigen Frieden“ und „Rechtslehre“ (d. h. um den zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten“), wo ein Abschnitt dem Völkerrecht gewidmet ist.
Kant sieht das Recht als einen Regulator der internationalen Beziehungen an. Diese Beziehungen Regelungen zu unterwerfen und sie zu verrechtlichen, sollte also zu einem wichtigen Instrument für die Erreichung der Sicherheit und des dauerhaften Friedens werden. In diesem Zusammenhang sollte sich auch das Gewicht der internationalen Organisationen steigern, die eine vermittelnde Rolle in Bezug auf Staaten spielen und die entstehenden Konflikte bereits in den Anfangsphasen regeln.
Eine vollständige Friedensstiftung zu erreichen und somit das Sicherheitsdilemma endgültig zu lösen, ist laut Kant nur durch die Einrichtung eines föderativen Friedensbundes (foedus pacificum) möglich (Kant, 1795, S. 356). Dabei könnte ein regionaler oder lokaler Völkerbund (wie die heutige EU im Großen und Ganzen) nur als eine Vorstufe auf dem Weg zur Schaffung eines globalen Völkerbundes, in dessen Rahmen eine vollständige und endgültige Lösung des Sicherheitsdilemmas allein möglich sei, betrachtet werden. Diesem globalen Friedensbund sollten alle Länder der Welt unabhängig von ihrer inneren Staatsordnung (in dieser Frage unterscheidet sich Kants Stellung von der Position der DF-Theorie) beitreten. Nur ein solcher Völkerbund, der die Fläche der ganzen Erde umfassen würde, könnte Kants Forderung nach einer kompletten Abschaffung aller Streitkräfte auf unserem Planeten erfüllen. Andernfalls sollte auch der Friedensbund eine stehende Armee besitzen, um mögliche Aggressione seitens der Nicht-Mitglieder des Bundes abzuwehren. Nach Kant ist der Friedensbund keine zentralisierte Weltrepublik, weil sonst die Mitglieder dieses Bundes ihre Souveränität verlieren würden. Die Ordnung des Friedensbundes sollte also föderativ und dezentralisiert sein, wobei die Mitgliedstaaten den föderativen Instituten nur so viel Souveränität und Kompetenzen delegieren sollten, wie notwendig wäre, um die Möglichkeit des gegenseitigen Krieges abzuschaffen. Dabei ist zu bemerken, dass Kants Begriffe der Föderation und der föderativen Verfassung streng genommen dem heutigen politikwissenschaftlichen Begriff der Konföderation entsprechen, d. h. eines Zusammenschlusses selbstständiger Staaten, die nach außen hin gemeinsam auftreten, ihre Souveränität aber beibehalten. Im Falle der Föderation geht es dagegen um eine begrenzte Selbstständigkeit bei den Teileinheiten, die nur eine Autonomie innerhalb des föderativen Staates behalten und keine Souveränität haben. Dem kantischen Bild des Friedensbundes entspricht heutzutage am meisten die Europäische Union, die mit der Zeit zu einem „Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten“ (Kant, 1795, S. 356) werden könnte.
Allerdings werden die Aussichten für Kants Projekt der praktischen Erreichung eines dauerhaften Friedens auf der ganzen Erde, d. h. der endgültigen Lösung des Sicherheitsdilemmas, von mehreren Spezialisten skeptisch betrachtet. Ihre Kritik an Kant lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
- Kants Völkerbund stellt eine Konföderation dar. Diese hat aber eine ziemlich instabile Struktur. Deswegen ist es kaum möglich, in ihrem Rahmen das Sicherheitsdilemma endgültig zu lösen.
- Kants Friedensplan setzt eine allgemeine Benevolenz voraus. Wenn aber „eine konsequente Malevolenz auftritt, verfügt ein solcher Bund weder über den notwendigen gemeinsamen Willen noch über die militärischen Mittel“ (Seidelmann, 1998, S. 173—174).
- Das Sicherheitsdilemma kann durch Kants Friedensplan nicht gelöst werden, weil es einen Widerspruch zwischen der Forderung nach föderativer Verfassung des Friedensbundes und dem Souveränitätsprinzip gibt (Seidelmann, 1998, S. 167—168). Der Friedensbund, die Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, die republikanische Verfassung — all das begrenzt die militärische Drohung, ohne jedoch das Sicherheitsdilemma im Sinne eines dauerhaften und wirksamen „ewigen“ Friedens zu lösen. Letzterer wird erst dann erreicht, wenn der Nationalstaat seine sicherheitspolitische Souveränität einer übergeordneten supra- bzw. superstaatlichen Instanz vollständig übergibt (Seidelmann, 1998, S. 168).
Auch wenn die Kritik an Kants Ansatz zur Lösung des Sicherheitsdilemmas berechtigt ist, bedeutet das noch nicht, dass seine Idee des dauerhaften Friedens als Ganzes falsch sein sollte. Kants Projekt des ewigen Friedens könnte für die moderne Theorie und Praxis der Friedensstiftung in dem Fall einen Sinn haben, wenn man es im Sinne „einer gradualistischen Strategie“ als den ersten „Schritt auf dem Weg zur supranationalen Ordnung“ versteht (Seidelmann 1998, S. 177—178). In dieser Hinsicht gewinnen Allianzen, Regime, multilaterale Organisationen nicht nur eine bedingt sicherheitspolitische Bedeutung, sondern auch eine friedenspolitisch-erzieherische Funktion (Seidelmann, 1998, S. 177—178). Obwohl Kants Friedensprojekt das Sicherheitsdilemma nicht löst, schafft es jedoch die wichtigsten theoretischen Voraussetzungen für seine Lösung.
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A. Salikov. Kants Friedensprojekt und die Ansätze zur Lösung des Sicherheitsdilemmas in der modernen Theorie der internationalen Beziehungen // Kant’s Project of Perpetual Peace in the Context of Contemporary Politics : proceedings of international seminar / ed. by A. Zilber, A. Salikov. — Kaliningrad : IKBFU Press, 2013.
Die Abhandlung ist mit Unterstützung von der Russischen Stiftung für Geistes- und Sozialwissenschaften vorbereitet (Projekt Nr. 12-03-0321). S. 137-147
About the author
Dr Alexei Salikov, deputy director of Kant Institute, Immanuel Kant Baltic Federal University, e-mail: salikov123@mail.ru