Volker Gerhardt. Die Menschheit in unserer Person. Fünf Gründe Kant in Kaliningrad zu ehren

Volker Gerhardt

Volker Gerhardt

Ein langer Weg nach Kaliningrad

Im April 2000, in der Schlussdebatte des 9. Internationalen Kant-Kongresses wurde angeregt, den turnusmäßig nachfolgenden 10. Kongress um ein Jahr vorzuverlegen, damit er 2004 im ehemaligen Königsberg stattfinden könne. Das hat sich leider nicht durchsetzen lassen. Der Fünfjahresrhythmus war wichtiger als die Umstellung auf die Lebensdaten von Immanuel Kant. Bei dieser Priorität wird man auch Kants dreihundertsten Geburtstag im April 2024 um ein Jahr verfehlen.

Um so mehr darf man sich freuen, dass es in enger Zusammenarbeit mit der Universität Kaliningrad gelungen ist, am 200. Todestag Immanuel Kants eine Gedenkfeier in der Stadt auszurichten, in der er geboren und gestorben ist. Nach den in beiden Ländern überwundenen Schwierigkeiten kann es überdies als glücklicher Umstand gelten, dass auch die hohe Politik aus Moskau und Berlin anreist, um Kant die Ehre zu erweisen.

Die Politik verdankt dem Lebenswerk Immanuel Kants besonders viel. Seinen bezwingenden Argumenten für die Freiheit, die Gleichheit und die Selbständigkeit der Individuen kann sie sich nirgendwo auf der Welt entziehen. Mit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen hat sie sich im Sinne Kants darauf verpflichtet, den Weltfrieden auf der Grundlage des Rechts zu sichern. Dieses schwere Geschäft muss sie als „Reform nach Prinzipien“ betreiben. Dabei hat sie dafür Sorge zu tragen, dass die sozialen Gegensätze nicht zur Bedrohung für den Rechtsfrieden werden.

Bedenken wir, dass Kant seine Forderung bereits im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erhoben hat, dann wird augenblicklich bewusst, wie lang der Weg bis zur Feier am 12. Februar 2004 in Kaliningrad tatsächlich gewesen ist.

Ein geschichtliches Zeichen

Natürlich braucht man nicht zu begründen, warum man sich am Geburtsort eines großen Menschen versammelt, um seiner zu gedenken. Wenn er diesen Ort nie verlassen hat, schließlich auch dort gestorben und begraben ist, ist es geradezu eine Pflicht, sich hier zu seiner Erinnerung einzufinden.

Doch wir wollen und wir dürfen nicht vergessen, dass es jahrzehntelang nicht möglich war, hierher zu reisen. Eine Weile war es in der Stadt noch nicht einmal erlaubt, öffentlich von Kant zu sprechen.

Das hatte Gründe, an denen die Deutschen alles andere als unschuldig sind. Die Russen mussten fürchten, dass die Erinnerung an den Philosophen nur ein Mittel ist, um alte nationale Interessen ins Spiel zu bringen. Von solchen Absichten könnte uns, wenn es denn – dreiundsechzig Jahre nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion – immer noch nötig wäre, gerade Kants kritisches Philosophieren befreien. Denn sein alles andere als „monologisches“ Denken ist in allem auf Verständigung und Mitteilung angelegt.

Die kritische Philosophie ist überdies der Realität des menschlichen Daseins verpflichtet. Sie nimmt den Menschen als endliches und bedürftiges Wesen ernst, sucht nach den Grenzen seines Wissens, gründet das Recht auf den leibhaftigen Gebrauch der Freiheit und verteidigt den politischen Kompromiss, solange er nicht gegen die menschliche Würde oder gegen geltendes Recht verstößt.

Schon die Notwendigkeit, an diese Momente der Philosophie Kants zu erinnern, macht uns bewusst, dass es, zumindest für einen Deutschen, nicht selbstverständlich ist, in einem Ort namens Kaliningrad über Kant zu sprechen. Nach allem, was geschehen ist, kann es dennoch als ein gutes Omen gewertet werden. Für dieses geschichtliche Zeichen lassen sich mindestens fünf Gründe nennen.

Kant und Königsberg

Es ist ein dummes, aber immer wieder zitiertes Wort, bei einem Philosophen genüge es zu wissen, wann er geboren und gestorben sei. Im übrigen komme es nur auf sein Denken an. Wo und wie er gelebt habe, könne auf sich beruhen. Gesetzt, das Wort wäre wahr, dann hätte Immanuel Kant ein mustergültiges Leben geführt. Er ist in Königsberg geboren, er ist hier gestorben und in der Zwischenzeit hat er sein Werk verfasst.

Die Nachwelt hat fast zweihundert Jahre lang so getan, als habe Kants Leben dieser Karikatur entsprochen. Tatsächlich haben die ersten Biographen ein von allen Widersprüchen gereinigtes Bild vom alten Kant überliefert. Heute, zweihundert Jahre nach seinem Tod, kann es jeder wissen, dass sich die großen Ereignisse im Leben des Immanuel Kant keineswegs nur in seinem Kopf abspielten.

Am gärenden, hart umkämpften Rand des Preußischen Staates hat Immanuel Kant ein von schweren Spannungen und dramatischen Wendungen reiches Leben geführt. Hoch sensibel, mit der starken Leidenschaft für Gerechtigkeit und Freiheit, getrieben von einer exzessiven Erkenntnis- und Mitteilungslust, bei schwächlicher Konstitution und am Ende mit einem Arbeitsertrag, der auch im neuen Jahrhundert Generationen von Philosophen beschäftigen wird, bewegt sich sein Leben in Extremen, zwischen denen sein Philosophieren den theoretischen Ausgleich sucht.

Kants kritische Philosophie ist von den durchlebten Krisen seines Daseins geprägt. Dabei sind der im Königsberg seiner Zeit kompromisslos ausgetragene Gegensatz zwischen Pietismus und Orthodoxie, die ohne Verständnis für die Gegenseite tobenden Streitigkeiten zwischen Rationalisten und Empiristen, der sich rücksichtslos auch gegen die Wahrheit durchsetzende akademische Dünkel sowie die im Niedergang der Zunft seines Vater erfahrene wirtschaftliche Dynamik entscheidend.

Damit ist der erste Grund genannt, der es zu einer philosophischen Verpflichtung macht, in der Stadt seines Lebens und Sterbens an Kant zu erinnern.

Kants politisches Vermächtnis

Der zweite Grund liegt in der lange Zeit unterschätzten politischen Bedeutung von Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Sie ist nicht darauf beschränkt, in der Tradition der großen Friedensutopien auch einen Entwurf Zum ewigen Frieden beigesteuert zu haben. Entscheidend ist der Realitätsgehalt seiner auf Ökonomie, geschichtliche Kontinuität und wirksame Macht gegründeten politischen Theorie. Das hören die Kantianer nicht gern. Es ist bequemer, sich Kant als einen bloßen Idealisten zurechtzulegen.

Aber Tatsache ist, dass er sowohl in seiner Treue gegenüber dem preußischen König wie auch in seinem Einspruch gegen revolutionäre Veränderungen die historisch gewachsenen Machtverhältnisse zu berücksichtigen wusste. Das Recht bedarf der Macht, um wirksam zu sein. Gleichwohl kann es sich nicht auf die gegebenen Verhältnisse festschreiben lassen. Der Reformimpuls ist daher ein aus eigener Logik gebotenes Moment einer jeden Politik.

Zu Kants großen Leitungen gehört die Begründung der Politik durch die Publizität. Damit ist nicht nur der Raum bestimmt, der der öffentlichen Meinung zukommt; auch die Philosophie, die mit Platon gelegentlich von einer königlichen Stellung träumte, wird auf die Funktion einer demokratischen Teilhabe beschränkt: Ihre genuine Aufgabe liegt in der Kritik der Politik.

Alles in allem haben wir in Kant einen liberalen Denker von europäischem Format. Im Anschluss an die Ideen von Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau stellt er den politischen Liberalismus auf ein neues Fundament, öffnet ihn für soziale Fragen und zeigt, warum Volkssouveränität, Repräsentation, Gewaltenteilung und öffentlich geübte Urteilskraft unerlässlich sind. In diesem zweiten Punkt können Russen und Deutsche noch einiges von ihm lernen.

Die kopernikanische Wende zum Leben

Lange Zeit galt Kant als der philosophische Statthalter der Newtonschen Physik. Tatsächlich zieht er die metaphysischen Konsequenzen aus der Mechanisierung des Himmels. Doch heute wissen wir, dass Kants theoretische Innovation nicht in der philosophischen Akkreditierung der neuzeitlichen Mechanik besteht. Im Gegenteil: Er hat seit seiner ersten Schrift über die „Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte“ nach einem Übergang zu einem dynamischen Verständnis der Natur gesucht.

Den ebnet er sich mit seiner „kopernikanischen Wendung“ zum Menschen als dem Träger aller Erkenntnis. In der Fundierung der Praxis allein durch den Willen, der jeder Zwecksetzung vorausgeht, vollzieht er einen weiteren Schritt. Der nächste erfolgt in der bis heute zu wenig beachteten Theorie des Lebens. Hier wird der Übergang von der mechanischen zur dynamischen Naturtheorie ausdrücklich zum Thema: Alles Lebendige ist ein Fall von individueller Selbstorganisation im Prozess einer sich in und durch die Individuen vermehrenden Gattung. Jeden Organismus betrachten wir so, „als ob“ er im strukturellen Aufbau wie auch im Gang seiner prozessualen Entwicklung eigenen Zwecken folgte.

Der philosophische Weg von Newton zu Darwin ist damit eröffnet. Der „Selbstdenker“ Immanuel Kant ist ein Vordenker der modernen Biologie. Er empfiehlt, in der kausalen Analyse der lebendigen Prozesse bis zum Äußersten zu gehen, und bleibt dennoch dabei, dass wir ohne Selbsterkenntnis nichts von dem verstehen, was für das Leben wesentlich ist.

Dieser dritte Grund sollte die russischen und die deutschen Forscher ermutigen sich in gemeinsamen Vorhaben den Lebenswissenschaften zuzuwenden. Unter der philosophischen Anleitung durch Kant müssten sich die verbreiteten Vorbehalte gegen die Biotechnik noch am ehesten ausräumen lassen.

Kants moralische Innovation

Kants bedeutendste philosophische Leistung liegt in der Begründung der menschlichen Freiheit, die ihren Ausdruck in der Moralität des einzelnen Menschen findet. Die wiederum zeigt sich darin, dass der Mensch sich und seinesgleichen ein Beispiel zu geben hat. Wir haben die „Menschheit in unserer Person“ zu wahren. Wenn dies nicht unser Geheimnis bleiben, sondern in unserem Handeln hervortreten soll, dann ist jede moralische Tat ein exemplarischer Akt.

Das moralische Wesen nimmt sich in einem Universum wahr, in dem es nicht nur sich selbst, sondern grundsätzlich jedem in die Augen sehen können möchte. Deshalb lassen sich, nach Kant, alle Tugenden letztlich in einer einzigen zusammenfassen: in der der „Wahrhaftigkeit“. Der Unterschied zur Politik liegt darin, dass in der Moral letztlich jeder für sich allein zu verantworten hat, für was er sich entscheidet.

Gleichwohl bewegt es sich mit seinen Fragen in einem prinzipiell öffentlichen Raum, in dem es idealer Weise von seinesgleichen wahrgenommen und in möglichst bester Verfassung erkannt werden möchte. Da aber niemand anderes exakt die gleiche Stellung einnimmt, vermag das handelnde Individuum seinesgleichen tatsächlich nur ein Beispiel geben.

Es wäre nicht nur kurios, sondern abwegig wollten russische und deutsche Philosophen im Namen Kants beschließen, der Menschheit nunmehr gemeinsam ein Beispiel zu geben. Aber die in jeder moralischen Verpflichtung angelegte Humanität sollte die Verständigung zwischen den einzelnen Menschen erleichtern, damit auch die beiden Völker näher zueinander finden. Damit ist der vierte Grund genannt.

Eine theologische Perspektive der Humanität

Kant gilt als der „Allerzermalmer“ der Metaphysik. Durch seine Destruktion der Gottesbeweise scheint er die Philosophie in eine unüberbrückbare Distanz zum Glauben gerückt zu haben. Sein Bekenntnis, er wolle das Wissen begrenzen, um dem Glauben Platz zu machen, wird heute als Tribut an den rückständigen Zeitgeist des 18. Jahrhunderts gedeutet.

Es könnte sein, dass diese Deutung selbst einem Vorurteil des 19. und 20. Jahrhunderts entstammt. Jedenfalls lohnt es darüber nachzudenken, warum der in religiösen Dingen so freie und mutige Kant, sich genötigt sah, das „Postulat“ von der Existenz Gottes einzuführen. Rücksichten auf seine Zeitgenossen – oder gar auf seinen Diener Lampe – scheiden aus.

Nach Kant wird das Postulat von der Existenz Gottes benötigt, um dem Menschen wenigstens die Hoffnung auf einen guten Ausgang seiner vernünftigen Bemühungen zu geben. Gott ist der Name für eine Macht, über die der Mensch nicht verfügt, auf die er dennoch – aus bloßer Vernunft, wohl aber im Bewusstsein der eigenen Bedürftigkeit – Anspruch erhebt. Nur ein Gott kann die rationale Erwartung mit dem sinnlichen Wunsch zur Deckung bringen.

Kant postuliert die Existenz Gottes nicht allein im Interesse einer spekulativen Erlösung des Menschen am Ende aller Zeiten. Der primäre, der praktische Sinn des Postulats zielt auf Gelassenheit im Dasein: Der Mensch, der sich zwar viel denken und noch mehr vorzustellen vermag, tatsächlich aber nur wenig erreichen kann, soll sich mit seinen begrenzten Kräften zufrieden geben können, ohne an seiner Vernunft irre zu werden. So wird die Existenz Gottes im Interesse der epochalen Existenz des Menschen postuliert. Damit kann sie die Sinnbedingung des menschlichen Handelns retten. Gott kommt ins Spiel, um dem Leben eine humane Perspektive zu geben.

Russland und Deutschland haben unterschiedliche religiöse Traditionen, die nicht ohne Einfluss auf die Politik ihrer Staaten gewesen sind. Vielleicht eröffnet das Nachdenken über Kants Motive bei der Einführung des Postulats von der Existenz Gottes eine kulturübergreifende Perspektive für die gemeinsame Forschung. Wenn wir uns daran erinnern, dass Kant, wie alle anderen Königsberger am 24. Januar 1758, einen Treueeid auf die Zarin Katharina geschworen hat, dass er sich während der vierjährigen Besetzung Königsbergs mit den russischen Offizieren bestens verstanden hat und dass er sowohl Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin wie auch Ehrenmitglied der russischen Akademie in St. Petersburg gewesen ist, dann müssten für das russisch-deutsche Gespräch über Grundprobleme des Philosophierens beste Aussichten bestehen. Wenn wir uns an ihn erinnern, haben wir auch eine Chance, uns an ihm ein Beispiel zu nehmen.

 

Der Text dieses Vortrages wurde im Sammelband „Kant zwischen West und Ost“ (2005) veröffentlicht:

Gerhardt, Volker. Die Menschheit in unserer Person. Fünf Gründe Kant in Kaliningrad zu ehren// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2005. S. 17 – 23.