Giuseppe Motta. Das himmlische Salz. Kants Auseinandersetzung mit dem Wahn in den Postulaten des Empirischen Denkens überhaupt

Giuseppe Motta

Giuseppe Motta

Auf den Seite 222 bis 223 der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft (Riga, Hartknoch, 1781), in der Mitte des dritten Absatzes des ersten Postulats des empirischen Denkens — „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich“[1] — schreibt Kant das folgende:

„Eine Substanz, welche beharrlich im Raume gegenwärtig wäre, doch ohne ihn zu erfüllen (wie dasjenige Mittelding zwischen Materie und denkenden Wesen, welches einige haben einführen wollen), oder eine besondere Grundkraft unseres Gemüths, das Künftige zum voraus anzuschauen (nicht etwa bloß zu folgern), oder endlich ein Vermögen desselben, mit andern Menschen in Gemeinschaft der Gedanken zu stehen (so entfernt sie auch sein mögen): das sind Begriffe, deren Möglichkeit ganz grundlos ist, weil sie nicht auf Erfahrung und deren bekannte Gesetze gegründet werden kann und ohne sie eine willkürliche Gedankenverbindung ist, die, ob sie zwar keinen Widerspruch enthält, doch keinen Anspruch auf objective Realität, mithin auf die Möglichkeit eines solchen Gegenstandes, als man sich hier denken will, machen kann“ [AA, III, S. 188].

Hiermit greift Kant auf Themen und Probleme zurück, die ihn vor allem in der Mitte der sechziger Jahre in Bezug auf die Veröffentlichung des kleinen und witzigen, aber auch sehr wichtigen Pamphlets über die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik beschäftigt hatten. Interessanterweise werden hier die Formen des Wahns, die ihn damals so sehr interessiert (und amüsiert) hatten, in einer systematischen und strengen Dreiteilung nach den Kategorien der Relation eingeordnet: Substanz, Kausalität, Wechselwirkung. Mit der Kausalität korrespondiert die Idee, dass der Mensch in irgendeiner Weise die Zukunft empfinden kann und mit der Wechselwirkung korrespondiert die Wahnvorstellung einer geistlichen Gemeinschaft der Seelen („der große Mensch“ oder die „Republik der Geiste“ nach Swedenborg).

Die Frage, die ich mir hier diesbezüglich stellen will, ist eine ganz spezifische: Woran denkt Kant, wenn er von einer Substanz schreibt, „welche beharrlich im Raume gegenwärtig wäre, doch ohne ihn zu erfüllen (wie dasjenige Mittelding zwischen Materie und denkenden Wesen, welches einige haben einführen wollen)“? Und: Wer sind diese „einige“?

Eine Substanz, welche „beharrlich im Raum“ ist, ohne ihn jedoch zu erfüllen, ist die Substanz des Geistes. In den Träumen eines Geistersehers hatte Kant eine sehr genaue (obwohl offensichtlich ironische) Definition von „Geist“ gegeben. Ein Geist — das ließt man im ersten Hauptstück des ersten Teils der Schrift — ist ein vernünftiges Wesen, welches nicht die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit an sich hat. Geister sind immaterielle Wesen, welche vereinigt niemals ein solides Ganzes ausmachen. Klumpen von Geistern können daher nicht zusammengeballt werden [AA, II, S. 321]. Im obigen Beispiel des ersten Postulats schreibt Kant aber nicht (oder nicht nur) von Geistern, sondern (zwischen Klammern) auch von einem spezifischen („dasjenige“) Element, das gewisse Leute („einige“) als „ein Mittelding zwischen Materie und denkenden Wesen“ eingeführt haben. Woran denkt Kant hier? Herbert James Paton schreibt nur: „This was apparently something invented as intermediate between matter and mind“ [18, vol. 2, p. 349]. Ganz ungenau ist der Hinweis von Alexandre Delamarre und François Marty in der Pleiade-Ausgabe: „Peut-être faudrait-il chercher dans les théories de l’éther“ [10, p. 1638]. Monique David-Ménard scheint dagegen genau zu wissen, wer hinter dem Ausdruck „einige“ steckt: „Swedenborg heißt nun nicht mehr,Schwedenberg‘ wie in den Träumen eines Geistersehers, er wird jetzt unter,einige‘ subsumiert“ [3, S. 126]. Der Hinweis auf Swedenborg bleibt aber vollkommen unerklärt. Man kann m. E. behaupten, dass Kant hier zugleich an die ganz allgemeine Tradition des Spiritualismus denkt (im ersten Teil des Satzes) und (im zweiten Teil, d. h. zwischen Klammer) einen schnellen, abwertenden Hinweis an gewisse Leute macht, die damals die Geistleiblichkeit der Seele verteidigten. Die Theorien, an die Kant hier flüchtig denkt, sind aber nicht die des Spiritualismus von Swedenborg, der sich über diese Substanz nicht präzise äußert, sondern die der Theosophie und Mystik des schwäbischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger.

Oetinger ist ein Vertreter des influxus physicus. Er behauptet aber, dass ein Verhältnis zwischen Seele und Körper nur Dank einer res media, d. h. durch ein Mittelding zwischen den beiden Substanzen, stattfinden kann. In mehreren Werken (ich denke vor allem an Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie von 1770, an den Gedanken von den zwo Fähigkeiten zu empfinden und zu erkennen von 1775 und an die deutsche Ausgabe der Schriften Swedenborgs von 1776) beschreibt er eine Tinktur oder ein Salz, welches weder purer Geist noch Wasser, sondern ein Mittelding zwischen Geist und Leib ist. Die Materie kann nicht denken; die Tinktur gehört aber zum Denken und das himmlische Salz ist der Grund aller Reflexionen.

An sich ist die Theorie eines ätherischen Mitteldings nichts Neues. Sie prägt zum Beispiel (in vielen Varianten) die Philosophie des antiken und des modernen Platonismus[2]. Angedeutet und diskutiert wird sie auch von Leibniz zum Beispiel in der Hypothesis physica nova von 1671. Oetingers Theorie der Tinktur kann jedoch vor allem deswegen als eine ganz originelle betrachtet werden, weil sie in einem einheitlichen Diskurs drei unterschiedliche Traditionen verbindet, und zwar: 1) die wissenschaftlichen und medizinischen Untersuchungen von Ärzten und Physiologen wie Giorgio Baglivi, Herman Boerhaave und dessen Schüler Albrecht von Haller und Claude-Nicolas Le Cat, 2) die philosophischen Reflexionen von Johann Georg Walch und von Friedrich Carl von Creuz, welcher eine Theorie der res cogitans atque extensa entwickelt hatte[3], und 3) die Mystik von Jakob Böhme, von Johann Arndt (und von einigen Alchimisten wie Thomas Vaughan)[4]. Die zwei wichtigsten Quelle und autoritates Oetingers sind in diesem Sinne vor allem der französische Chirurg und Anatomist Claude-Nicolas Le Cat und der berühmte schlesische Mystiker Jakob Böhme.

Im Artikel „Tinktur“ des Biblischen und Emblematisches Wörterbuchs von 1776 beruft sich Oetinger explizit auf Le Cat mit folgenden Worten: „Hier muß man den grossen Mechanicum […] Mons. Le Cat in seinen Memoires hören, so weiß man einiger Maasen, was das Werkzeug der Seele zur Empfindung und Bewegung ist […] Der Nervensaft ist nicht Oel, noch Wasser, noch Luft, noch Feuer, sondern ein Mittelding zwischen Seele und Leib. Es ist eine Art eines Amphibii […] Man suche also nicht in der Mechanik, was man in der Chemie suchen soll“ [16, S. 620—621].

In Bezug auf Böhme schreibt Oetinger: „Diß Fluidum heißt J. Böhm die Tinktur […] Sie ist die Ursach des Glanzes, durch sie sehen und leben die Kreaturen: von Ewigkeit ist sie gewesen in Gott, aber sie hat sich in alle Dinge miteingebildet. So bald ein Element zu stark wird, so fleucht die Tinctur davon, und das Leben hat ein Ende, sie kann von Wasser, von Erden, von der Luft, von dem Feuer überfüllt werden. […] Die Seele ist nicht so subtil als die Tinctur, aber sie ist mächtig durch sie“ [16, S. 621—622][5].

Im Jahr 1770 erschien in Stuttgart ein anonymes Buch mit dem Titel Das Geheimnis vom Salz als dem Lebensbalsam und dem Schatz aller Schätze. Als Autor wird der fiktive Name angegeben: „Elias Artista Ermetica“, welcher höchst wahrscheinlich Friedrich Oetinger selbst ist. Dieser vertritt hier die These, dass die Seele „ein aufgelößtes Corpus, ein in die Dünnheit zerflossener Saft, ein durch den Geist lebendig gemachtes Corpus“ ist. „Gleichwie aber die Seele des Geists Wohnung oder Leib: also ist Salz die Wohnung oder Leib der Seelen“, so Elias Artista Ermetica auf Seite 20 seiner Abhandlung.

Andere (ernstere) Wissenschaftler und Philosophen haben in den Jahren vor der Erscheinung der Kritik der reinen Vernunft die oben erwähnte (vor allem an Boerhaave zurückgehende) Theorie von einem fluidum vitale vel nervosum fortgesetzt. In seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772 lokalisiert Ernst Platner im „Gehirnmark“ den Sitz der Seele[6]. Justus Christian Hennings, der Autor der damals bekannten Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere (Halle, 1774), eröffnet sein Werk Von den Ahndungen und Visionen (Leipzig, 1777) mit folgenden Worten: „Der Mensch ist eine Zusammensetzung aus der vernünftigen Seele und dem Leibe, die mit einander vereiniget sind […] Der Nervensaft oder Nervengeist, den man auch zuweilen mit der Benennung Lebensgeister belegt, und der sich in seinen Wirkungen als ein elektrisch Feuer verhält, könnte — nach Gründe der Wahrscheinlichkeit — als das Band der Vereinigung der Seele mit dem Leibe betrachtet werden […] Dieses Band kettet die Seele an den Leib, und letzteren an die Seele“ [8, S. 1—3].

Man könnte natürlich auch vermuten, dass Kant im obigen Satz aus den Seiten 222 bis 223 der Kritik der reinen Vernunft an solche Wissenschaftler oder an die vorher erwähnten Philosophen denkt. In den drei Beispielen des Zitats (welche einen einzigen Diskurs bilden) bezieht er sich aber offensichtlich auf die „Hirngespinste“ des Spiritualismus. Er scheint daher viel mehr an die extremen Zuspitzungen der mystischen Spekulationen von Böhme und Oetinger, auf die er sich sonst nie bezieht, als an die wissenschaftliche Hypothese von Boerhaave oder an die philosophischen Theorien von Leibniz zu denken.

 

Literaturverzeichnis 

1. Böhme, Jakob, De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens, 1619; in Bd. 2 der Sämtlichen Schriften, hrsg. von W. E. Peuckert Stuttgart, 1988.

2. Creuz, Friedrich Carl Casimir Freiherr von, Versuch über die Seele, Frankfurt und Leipzig, 1754.

3. David-Ménard, Monique, Swedenborg in der Kritik der reinen Vernunft, in Kant und Swedenborg, hrsg. von F. Stengel, Tübingen, Niemeyer, 2008, S. 123—132.

4. Elias Artista Ermetica, Das Geheimnis vom Salz, als dem Lebensbalsam und dem Schatz aller Schätze, 1770; Nachdruck (aus der Originalwiedergabe in Stuttgart, 1862) Freiburg im Breisgau, Aurum Verlag, 1979.

5. Griffero, Tonino, La Tinktur come corpo spirituale: l’estetica teosofica di Friedrich Christoph Oetinger, in Rivista di Estetica, 18 (3/2001), XLI, S. 54—69.

6. Griffero, Tonino, Il corpo spirituale. Ontologie «sottili» da Paolo di Tarso a Friedrich Christoph Oetinger, Milano Mimesis Edizioni, 2006.

7. Hennings, Justus Christian, Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Pragmatisch entworfen, Halle, 1774.

8. Hennings, Justus Christian, Von den Ahndungen und Visionen, Leipzig, 1777.

9. Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / von der Deutschen / Göttinger Akademie der Wissenschaften, Berlin-Leipzig, G. Reimer 1900 f. / Berlin, De Gruyter 1967 f. (Kants Werke werden mit Band- und Seitenangabe zitiert).

10. Kant, Emmanuel, Œuvres philosophiques, I, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1980.

11. Klemme, Heiner F., Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewusßtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg, Meiner, 1996.

12. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Hypothesis physica nova, qua phaenomenorum naturae plerorumque causae ab unico quodam universali motu, in globo nostro supposito, neque Tychonicis, neque Copernicanis aspernando, repetuntur. Nec non theoria motus abstracti. London, 1671.

13. Marsilio Ficino, Platonic Theology, Vol. 6, Books XVII-XVIII, kritische Ausgabe von J. Hankins mit englischer Übersetzung von M. J. B. Allen, Cambridge (Mass.), Harvard University Press, 2006

14. Oetinger, Friedrich Christoph, Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie, Schwaebisch-Hall, 1770.

15. Oetinger, Friedrich Christoph, Gedanken von den zwo Fähigkeiten zu empfinden und zu erkennen, und dem daraus zu bestimmenden Unterschiede der Genien, Frankfurt und Leipzig, 1775. Kritische Ausgabe und italienische Übersetzung von T. Griffero, Pensieri sul sentire e sul conoscere. Palermo: Aesthetica Preprint, 1999.

16. Oetinger, Friedrich Christoph, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, 1776; hrsg. von G. Schäfer und anderen, Berlin und New York, De Gruyter, 1999.

17. Swedenborg, Emanuel, Auserlesene Schriften, 1—5, Frankfurt, 1776—1777.

18. Paton, Herbert James, Kant’s Metaphysics of Experience. A commentary on the first half of the „Kritik der reinen Vernunft“ (2. Bde.), Northampton, 1936. Nachdruck, Bristol, Thoemmes, 1997.

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Motta, Giuseppe. Das himmlische salz. Kants Auseinandersetzung mit dem Wahn in den Postulaten des Empirischen Denkens überhaupt// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 1, S. 280 – 286.



[1] Das erste Postulat der Möglichkeit wird von Kant in insgesamt fünf unterschiedlich langen und wichtigen Absätzen erläutert:

¾ Im ersten Absatz des Postulats der Möglichkeit erklärt Kant, was das Mögliche im transzendentalen Sinne ist: Übereinstimmung des Begriffs eines Dinges mit den formalen Bedingungen der Erfahrung. Und was es nicht ist: bloße Nicht-Widersprüchlichkeit eines Begriffes. Der Unterschied zwischen diesen unterschiedlichen Auffassungen der Möglichkeit wird anhand eines mathematischen Beispiels dargestellt: die Unmöglichkeit des Biangels.

¾ Im zweiten Absatz wird der Sinn der transzendentalen Möglichkeit auf Grund von drei (den Kategorien der Relation entsprechenden) Beispielen erläutert. Es geht vor allem nicht um die abstrakte Möglichkeit des Begriffs eines Dinges, welches (1.) beharrlich im Raume, (2.) Ursache von etwas anderem, oder (3.) in Verhältnis mit anderen auch aufeinander bezogenen Dingen steht. Die objektive Realität der Begriffe der Substanz, Kausalität, Wechselwirkung hängt eher davon ab, dass diese Begriffe die Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung sind.

¾ Will man doch von der Nicht-Widersprüchlichkeit eines Begriffes auf die Möglichkeit des Gegenstandes schließen, dann ratet man in vielen Hirngespinsten und Chimären. Das wird von Kant mit Hilfe von drei gedichteten Begriffen erklärt, welche (die obigen Beispielen fortsetzend) den drei Kategorien der Relation entsprechen: 1. eine Substanz zwischen Materie und Gedanken, 2. die Vorhersehung, 3. die Gemeinschaft der Gedanke.

¾ Im vierten Absatz der Postulate stellt sich Kant vor dem Problem der Möglichkeit der mathematischen Begriffe.

¾ Die Objektivität der Gegenstände der Mathematik wird dadurch gewährleistet, dass diese nicht willkürlich (d. h. nach der Möglichkeit als bloße Widerspruchslosigkeit gewisser Abstraktionen), sondern auf Grund der Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung selbst konstruiert werden.

[2] Man beachte zum Beispiel: Marsilio Ficino [13, lib.18, cap.4].

[3] Vgl. sein Versuch über die Seele [2, S. 48].

[4] Man beachte dazu vor allem Griffero [5, p. 59ff.] und [15, p. 19ff.]. Diese kurze Zusammenfassung der Quelle Oetingers hängt zutiefst mit den ausführlicheren Untersuchungen von Tonino Griffero zusammen.

[5] Vgl. Böhme [1, 12:22, 24, 13:24].

[6] Dazu Klemme [11, S. 29].