Valerio Rohden † (1937 – 2010). Kants Kritik eines praktischen Solipsismus

1. Theoretischer und praktischer Solipsismus

Die vorliegende Arbeit entstand aus der Notwendigkeit, in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) den Begriff Selbstsucht ins Portugiesische zu übersetzen, den ich wiederum bei Kant meistens zusammen mit dem in Klammern gesetzten lateinischen Begriff solipsismus vorfand. Das deutsche Wort Selbstsucht hatte sich in der Zeit Kants etabliert und kam als erster Versuch zur Wiedergabe des englischen Begriffs selfishness in der 1747 erschienenen Übersetzung von Shaftesburys Werk An Inquiry concerning virtue or merit (1711) durch J. J. Spalding auf. In seiner lateinischen Form ist der Begriff aus den Elementen solus (allein) und ipse (ich selbst) zusammengesetzt, die gemeinsam eine deformierte Einstellung hinsichtlich der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen ergeben. Diese Deformation wird in der Übersetzung ins Deutsche durch Selbstsucht besonders deutlich, da damit klar eine pathologische Beziehung (Sucht) zu sich selbst bezeichnet wird.

Ein Jahrhundert vor der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Konzeption des theoretischen Solipsismus gab es also bereits die eigentlich unbekannte Konzeption des praktischen Solipsismus. Aus theoretischer Sicht wurde der Solipsismus von Gottfried Gabriel als ein radikaler Idealismus definiert, bei dem die Wirklichkeit der äußeren Welt vom Bewusstsein abhängig gemacht wird. Diese theoretische Konzeption ist heute die herrschende und fast einzige bekannte Form von Solipsismus. Die praktische Konzeption entspricht dem, was wir heute Egoismus oder Eigeninteresse oder eben Selbstsucht nennen. In diesem Sinn definierte bereits W. T. Krug in seinem Handwörterbuch (1832-1838) die Selbstsucht als „einen unbeschränkten praktischen Egoismus“. Die Egoisten halten sich für die einzig wirklichen Wesen. Sie sind Idealisten, weil sie weder eine äußere materielle Welt noch eine Vielfalt geistiger Wesen anerkennen. Sie leugnen das Sein (ontologische Position) aber nicht die Erkenntnis (epistemologische Position). K. L. Reinhold gab dem Solipsismus eine epistemologische Ausrichtung: der Egoist leugnet nur den Beweis der Existenz anderer Wesen außer ihm selbst.

Die Literatur zum praktischen Solipsismus ist spärlich, und auch wo die praktische Vernunft Kants gegenüber den Vorwürfen des Solipsismus verteidigt wird, geht man nicht auf den praktischen Gesichtspunkt ein, der hier dargestellt werden soll. Im von Schönrich und Kato herausgegebenen Buch Kant in der Diskussion der Moderne (1996) finden wir zwei Arbeiten, die sich gegen die an Kant gerichtete Solipsismus-Kritik richten. Es handelt sich um die texte von W. Kuhlmann „Solipsismus in Kants praktischer Philosophie“ und O. Höffe „Eine republikanische Vernunft. Zur Kritik des Solipsismusvorwurfs“. Beide analysieren den praktischen Solipsismus aus theoretischer Sicht, um dann zu behaupten, die kantische Vernunft sei nicht solipsistisch. Dabei wird die praktische Kritik Kants am moralischen Solipsismus völlig vergessen, die seiner Pragmatischen Anthropologie zufolge auch eine Theorie des praktischen Egoismus genannt werden könnte, wo Kant behauptet: „Alle Eudämonisten sind praktische Egoisten“. Aus anthropologischer Sicht etabliert Kant hier den praktischen Pluralismus als Gegenmittel zum Egoismus.

Durch die vorliegenden Überlegungen soll eine Neuinterpretation der KpV als Kritik einer praktischen solipsistischen Illusion und gleichzeitig eine Neuinterpretation der reinen praktischen Vernunft als nicht solipsistischer Vernunft vorgeschlagen werden. Dies ist anhand der KpV und der Metahpysik der Sitten (MS) zu zeigen.

 

2. Quellen des praktischen Solipsismus bei Kant

An einigen wenigen Stellen seiner praktischen Philosophie stellt Kant die Bezeichnung Solipsismus in Entsprechung zu einem Prinzip der Selbstliebe, das durch den Begriff Selbstsucht  ausgedrückt wird. Aber wenn er das, was heute Egoismus genannt wird, als Solipsismus interpretierte, worin liegt dann der Verdienst seiner eigenen Bestimmung? Bei der Untersuchung dieser Vorstellung stehen wir vor der Situation, dass sie nur in sehr wenigen Texten aufgenommen wird, die jedoch wiederum aus verschiedenen Phasen stammen, und in denen diese Vorstellung jeweils mit einem zentralen Punkt seiner ethischen Konzeption verbunden ist.

Zunächst sollen die wichtigsten Abschnitte erwähnt werden, in denen sich die kantische Vorstellung mit unterschiedlichen Nuancen ausdrückt:

1) In der  KpV bezeichnet Kant mit Solipsismus das System der Neigungen. Der Solipsismus enthält eine Form der Selbstliebe, die Eigenliebe genannt wird und der philautia entspricht, sowie eine andere, die Eigendünkel genannt wird und dem entspricht, was er im Lateinischen mit arrogantia bezeichnet.

 

2) In einem zweiten Text, der Vorarbeiten zum Gemeinspruch [1, Bd. XXIII,  140) erscheint der Solipsismus als eine unter mehreren Arten von Egoismus. Hier wird er Eigennutz genannt und trägt wiederum, als allgemeine Form des Egoismus, den Namen Selbstsucht. An dieser Stelle ist die Definiton des Egoismus als Hang zur Selbstgenügsamkeit festzuhalten. Dieser Text lässt sich mit dem oben erwähnten und sicher aus derselben Zeit stammenden Abschnitt aus der Pragmatischen Anthropologie vergleichen.

3) In der MS [1, Bd. VI, 450/451] nimmt Kant die in der KpV vorgenommene Identifizierung zwischen Selbstsucht und Solipsismus wieder auf. Hier wird derjenige als solipsistisch bezeichnet, der gegenüber dem Wohlergehen der anderen gleichgültig bleibt, solange es ihm selber nur gut geht. Der Solipsismus wird dabei als ein Prinzip (Maxime) identifiziert.

Die unter zweitens dargestellte Konzeption ist durch ihre Identifizierung von Selbstsucht und Egoismus von höherer Aktualität. Denn im Laufe der Zeit wurde selbst die deutsche Bezeichnung als veraltet angesehen, und was in den Vorarbeiten als auf Eigennutz beschränkter Solipsismus verstanden wurde, ergab schließlich die allgemein übliche Übersetzung des englischen selfishness. Selbstsucht, Solipsismus und selfishness bezeichnen also dasselbe, das  aber den VzG zufolge zu einer Form von Egoismus wurde, die nicht mehr mit der Eigenliebe und dem Eigendünkel zusammenfällt. Daraus ergibt sich jedoch ein Problem: Solipsismus und Egoismus im Allgemeinen sind nicht deckungsgleich, und lediglich eine Art von Egoismus ist solipsistisch. Welchen Sinn soll das Bestehen nicht solipsistischer Formen von Egoismus haben?

 

3. Formen des moralischen Solipsismus

Gehen wir von einer anthropologischen Feststellung aus: in unserer Seinsweise als sinnliche Wesen dominiert eine materielle Unmittelbarkeit der Gegenstände der Neigung, die sich uns vor jeder anderen Bestimmung anbieten. Zumindest aus zeitlicher Sicht kommen deshalb im Menschen die Neigungen vor dem moralischen Gesetz. Damit ergibt sich tendenziell auch ein Primat des Genusses, der die Neigungen leitet: sie bilden die gewohnte Weise, den Genuss  zur praktischen Determinante des Begehrungsvermögens.

Demgegenüber folgt die zweite Form des praktischen Genusses der rationalen Bestimmung des Begehrungsvermögens, als eine Form der Lust, die mit der Moralität  kompatibel ist.

Im ersten Fall des zeitlichen Primats der Lust sind die Neigungen jedoch noch nicht solipsistisch. Wie die Sinnlichkeit sind die Neigungen an sich weder gut noch schlecht, sondern gehören zu einer Anlage der menschlichen Natur als eine ursprüngliche Disposition zum Guten. Solange ein Ich sich also sinnlich orientiert, folgt es Klugheitsmaximen, die auf einer vormoralischen Ebene liegen. Als Gewohnheit, sich vom Genuss leiten zu lassen, begnügt sich eine Neigung jedoch niemals mit der gegenwärtigen Lust, sondern sucht sie unersättlich immer wieder neu. So neigt auch das sinnliche Ich dazu, sich in ein totales Ich zu verwandeln. Auch das System der Neigungen, das der Idee des eigenen Glücks entspricht, tendiert dazu, aus dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe ein objektives Prinzip zu machen. Die Verwandlung von Neigungen zu solipsistischen Neigungen geschieht nicht ohne ihr Zusammenbringen unter einem Prinzip. Der Solipsismus ist damit eine angebliche Form der Universalisierung der Suche nach Selbstbefriedigung. Kant definierte den praktischen Solipsismus als einen Hangs zur Selbstliebe (vgl. [A 131]). Die Selbstliebe pervertiert sich in ihrem Anspruch, ihr subjektives Prinzip in ein objektives zu verwandeln. Ihre Radikalisierung heißt Eigendünkel.

Der kritische Teil des ganzen dritten Kapitels der KpV über die moralische Motivation konzentriert sich auf zwei Formen von praktischem Solipsismus: eine als negative Form der Selbstliebe, genannt Eigenliebe oder ursprünglich philautia, und eine andere, genannt Eigendünkel oder Arroganz. Auf den ersten Blick scheint Kant diese Unterschiede nicht genügend zu berücksichtigen, indem er einer nicht eigentlich solipsistischen, rationalen Form der Selbstliebe Raum gibt und insofern er durch eine Beschränkung der Eigenliebe diese in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz bringt. Beide Formen von Solipsismus enthalten zudem eine Abstufung, als ob die Arroganz, statt auch einen Hang darzustellen, ledigilich eine Verwirklichung des Hanges zur Selbstliebe sei: Arroganz und Eigendünkel werden hier als Synonyme verwendet und nur aus äußeren Gründen der Übersetzung unterschieden, wie beispielsweise im Abschnitt, dem zufolge Solipsismus des Wohlgefallens an sich selbst (arrogantia) Eigendünkel genannt wird.

In der Tugendlehre nimmt Kant die in der KpV behandelte praktische Konzeption des Solipsismus wieder auf, und zwar insbesondere im Abschnitt 26. Dem lateinischen Begriff solipsista folgt hier in Klammern die deutsche Bezeichnung Selbstsucht. Wenn wir dem Glossar von Vorländer Glauben schenken wollten, so handelte es sich hier um den einzigen relevanten Abschnitt, in dem die Bezeichnung Selbstsucht in der Tugendlehre vorkommt, aber beispielsweise in der zweiten Abteilung der Einleitung lassen sich dazu durchaus weitere Stellen finden.

Ohne die Verbindung dieser Bezeichnung zu anderen könnten wir dazu nur wenig sagen, aber meiner Ansicht nach nimmt der Begriff Selbstsucht, trotz seiner spärlichen Verwendung, eine Schlüsselstellung in der Bestimmung der kantischen Sittlichkeit ein. Wir wollen also von der kantischen Definition und Analyse des Begriffs solipsista ausgehen. Er schreibt dazu: „Der, welchem es gleichgültig ist, wie es den Anderen ergehen mag, wenn es ihm selbst nur wohl geht, ist ein Selbstsüchtiger (solipsista) [1, Bd. V, § 26].

Die Gleichgültigkeit gegenüber den anderen, die in einem ausschließlichen Interesse an sich selbst gründet, ist die dritte der vier hier erwähnten Verhaltensweisen im Blick auf die Pflicht, die anderen zu lieben. Die erste ist die des Philanthropen (Menschenfreund), als aktives Wohlwollen gegenüber den anderen Menschen; die zweite ist die des Misanthropen (Menschenfeind), dem es dann gut geht, wenn es den anderen schlecht geht; die vierte ist diejenige, bei der jemand den anderen gegenüber wohlgesinnt ist, aber an ihnen keinen Gefallen empfindet (ästhetischer Misanthrop, Anthropophobie).

Diese Verhaltensweisen werden hier nicht aus ästhetischer, sondern aus praktischer Sicht behandelt, und dies bedeutet in der Ethik, die als reine praktische Philosophie der inneren Gesetzgebung definiert ist, dass sie sich lediglich auf die Handlungsmaximen bezieht. Eine Maxime zu übernehmen bedeutet die subjektive Setzung eines Lebensprinzips. Jemand ist somit solipsistisch, wenn er diese Position für sich als Prinzip, wenn er sein persönliches Interesse als Maxime übernimmt, und dafür eine Einstellung der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen der anderen in Kauf nimmt. Das Einnehmen einer solchen Position ist für uns insofern von Belang, als das Interesse für das Wohlergehen der anderen aus moralischer Sicht das gleiche Gewicht wie mein Eigeninteresse haben sollte.

In dieser Ethik gibt es zwei Arten von Pflichten: die eine betrifft mich selbst und bezieht sich auf die Entwicklung meiner eigenen Fähigkeiten, damit ich die Zwecke erreichen kann, die ich mir setze und ohne die in meinem Leben keinerlei Entwicklung möglich ist; die andere bezieht sich auf meine Entwicklung in Bezug auf das Wohlergehen oder Glück der anderen. Im Prinzip habe ich keine Pflichten hinsichtlich meines eigenen Glücks, weil ich dieses von Natur aus suche, aber da dies nicht für das Glück der anderen gilt, muss ich dieses rational suchen.

Wir könnten nun fragen, warum unsere persönliche Entwicklung eine Pflicht jedes Menschen ist. Dies lässt sich sowohl von der Grundlegung als auch von der Folge her aufzeigen. Von der Grundlegung her: während mein Wille durch seine Fähigkeit frei wird, sich durch die reine praktische Vernunft bestimmen zu lassen, unterwerfen sich ab diesem Moment – und dies ist die Folge – alle Maximen, von denen meine Handlungen bestimmt sind, der formalen Bedingung, einer universalen Gesetzgebung zu entsprechen. Auf der einen Seite unterwerfe ich mich also einer Bedingung der praktischen Vernunft, auf der anderen füge ich mich in eine menschliche Welt als intendierten Inhalt einer praktischen Vernunft ein. Angesichts der Universalität der praktischen Vernunft bindet mich also die Pflicht zur Vervollkommnung meiner selbst an alle anderen. Die Pflicht zur Entwicklung meiner Fähigkeiten bedeutet also, dass ich versuchen soll, mich zur moralischen Welt der Vernunft zu erheben. So gesehen verfolge ich frei meine empirischen Zwecke, da die Handlungen in der Ethik nicht bestimmt sind; nur die Maxime ist bestimmt, denn sie muss einer universalen Gesetzgebung entsprechen. Während ich mich durch empirische Handlungen verwirkliche, darf ich also die anderem Menschen nicht aus dem Blick verlieren, denn die Pflicht gegenüber mir selber bindet mich durch die Maxime an eine reine praktische Vernunft, die mich ihrerseits wieder mit allen anderen verbindet. Ich kann mich verwirklichen wie ich will, solange ich mich vervollkommne. Solange ich diese Pflicht erfülle, bin ich durch die Maxime mit der praktischen Vernunft verbunden, die eine menschliche Welt beinhaltet, und somit auch mit der Menschheit. Folglich kann ich die sogenannte Selbstliebe nicht zur Maxime machen, denn dadurch würde diese selbstsüchtig/solipsistisch, und mein empirischer Zweck würde in der Grundlegung des Prinzips Vorrang gegenüber der Vernunft beanspruchen. Wenn ich aber meine persönliche Vervollkommnung den Vernunftprinzipien entsprechend zur Maxime mache und damit als Pflicht ansehe, stellt mich meine persönliche Vervollkommnung gleichzeitig in eine Perspektive, welche die Universalität bzw. die Menschheit mit einschließt. Ich kann deshalb das Verfolgen meiner eigenen empirischen Zwecken nicht zur Maxime machen, weil ich ihnen sonst erliegen werde, sondern ich soll die Zwecke der anderen übernehmen, als ob es meine eigenen wären, und so interessiere ich mich für das Glück der anderen. Wenn ich mich von Natur aus für mein Glück interessiere, soll ich mich im gleichen Maße für das Glück der anderen interessieren. Das natürliche Interesse wird sozusagen zum Schema meines moralischen Interesses, da das auf mich gerichtete Interesse zum Maßstab für das Interesse für andere wird.

Ein kurzer Abschnitt aus dem Ende der IX. Abteilung der Einführung in die Tugendlehre, der vom Begriff der Tugendpflicht handelt und wo Kant eine Ableitung des höchsten Prinzips der Tugendlehre synthetisiert, trägt zum Verständnis dieser Verträglichkeit zwischen dem Verfolgen meiner eigenen Zwecke und der Übernahme der Zwecke anderer als meine eigenen bei. Das Prinzip ist: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ [1, Bd. V, 395]. Aufgrund dieses Prinzips kann jeder sein eigener Zweck und auch der Zweck anderer sein.

Mit solcher Ableitung  können wir zum Verständnis der kantischen Kritik am praktischen Solipsismus zurückkehren. Der Schlüsselbegriff der zuvor und hier von neuem dargestellten solipsistischen Konzeption ist meines Erachtens derjenige der Gleichgültigkeit. Wenn also dieser Begriff eine zentrale Rolle bei der Ableitung des Prinzips der Tugendlehre spielt, dann ist die Theorie des praktischen Solipsismus von höchster Relevanz für die ethische Theorie Kants. Wir wollen zunächst die Behauptung Kants aufnehmen, das jede Maxime Zwecke enthält. Wenn wir die Maxime der reinen praktischen Vernunft unterwerfen und sie damit für universalisierbar halten, betrachten wir gleichzeitig uns selbst und alle anderen ebenfalls als Zwecke. Kant macht aber zuvor deutlich, was vor unserer praktischen Vernunft ein Zweck sein kann, nämlich dasjenige, was ein Zweck in der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen sein kann. Als allgemeine Fähigkeit zu Zwecken sind diese Zwecke in der Beziehung der Menschen zu sich selbst und zu den anderen für die praktische Vernunft a priori vorgegeben. Als Basis für die Kritik am Solipsismus dient folgender Satz: „In Ansehung der praktischen Vernunft indifferent sein, d. I. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch“ [1, Bd. V, 395]. Da das Interesse immer Zwecke impliziert und die reine praktische Vernunft dem Menschen ermöglicht, Zwecke zu haben, so entsteht ein Widerspruch, wenn man sich nicht für diese praktische Vernunft interessiert, weil man sich dann für Zwecke interessiert ohne Interesse für diejenige Fähigkeit, die diese Zwecke überhaupt ermöglicht. Es handelt sich dabei um einen logischen Widerspruch auf praktischer Ebene, auf der Ebene des Willens als Fähigkeit zu Maximen, die immer Zwecke enthält. Der Solipsismus wird also hier als widersprüchlich kritisiert, da er den eigenen Zweck verabsolutiert, sich für die anderen nicht interessiert und gegenüber ihrem Schicksal gleichgültig bleibt.

Der Solipsist, der die anderen nicht berücksichtigt, übertritt dieses grundlegende Gesetz, ohne das es keine Zwecke geben kann. Wenn die Zwecke zur bestimmenden Kraft werden, verlieren sie ihre eigene ratio essendi. Der praktische Solipsismus ist damit praktisch widersprüchlich, weil er sich für eine Maxime der Eigenliebe entscheidet und den Zwecken der anderen gegenüber gleichgültig bleibt. Demgegenüber behauptet der Text der Ableitung, es sei widersprüchlich, gegenüber einer reinen praktischen Vernunft als allgemeiner Fähigkeit zu Zwecken gleichgültig zu bleiben, sich nicht für sie zu interessieren. Im Solipsismus bestimmt nicht die praktische Vernunf die Maxime (wo die Zwecke angelegt sind), wobei jene gleichzeitig die allgemeine Fähigkeit zu Zwecken darstellt. Es ist widersinnig, Zwecke zu übernehmen, die ihrer eigenen Möglichkeitsbedingung widersprechen.

 

4. Eine nicht solipsistische praktische Vernunft

Im § 27, der auf die Definition des Solipsisten folgt, ist die Erklärung Kants von Bedeutung, dass die praktische Vernunft nicht solipsistisch ist. Dies wird analytisch demonstriert mit der Argumentation, dass eine Maxime, die für eine Gesetzgebung geeignet ist, nicht alle einschließen kann, ohne dass ich auch in diesen „allen“ mit eingeschlossen bin, denn ohne den Einbezug des ich gibt es kein „alle“. Ich beziehe mich also in die Verpflichtung einer Maxime mit ein, die für eine Gesetzgebung geeignet ist und deshalb alle mit einschließt. Die Eigenliebe kann nicht moralisch gerechtfertigt werden und widerspricht einer Maxime, die auf Universalität ausgerichtet ist. Wenn ich die Eigenliebe zur Maxime mache, muss ich also angesichts der praktischen Vernunft – mit der die Maximen verglichen und daraufhin beurteilt werden – verifizieren, ob sie universalisierbar ist. Es wird sich aber zeigen, dass sie mit ihrer Gleichgültigkeit prinzipiell zum Schicksal der anderen im Widerspruch steht.

Betrachten wir also den Inhalt dieses Textes des § 27 als Demonstration einer nicht solipsistischen praktischen Vernunft. Zunächst unterscheidet Kant zwischen Wohlwollen, als Einstellung, bei der man am Glück oder Wohlbefinden des anderen Gefallen hat, und Wohltun als ein Handeln oder als eine Übernahme der Maxime, das Wohlwollen zu einem Zweck zu machen, also dem anderen zu helfen und ihn zu fördern, soweit dies die eigenen Möglichkeiten zulassen. – Wenn Kant sich also am Anfang des § 27 auf die Maxime des Wohlwollens bezieht, ist damit bereits diese praktische menschliche Liebe im Sinne des Wohltuns gemeint. – Die Konzeption einer nicht solipsistischen praktischen Vernunft wird an den folgenden Schritten aufgezeigt:

1)     Die Maxime des Wohlwollens ist eine Pflicht, die sich im Gebot “liebe deinen Nächsten wie dich selbst” ausdrückt.

2)     Die moralisch-praktischen zwischenmenschlichen Beziehungen implizieren Maximen, die sich zu einem universalen Gesetz qualifizieren und die deshalb nicht solipsistisch sein können. Wenn ich diesem Prinzip zufolge das Wohlwollen anderer mir gegenüber anstrebe, soll ich auch wohlwollend gegenüber anderen sein wollen.

3)     Die gesetzgebende Vernunft impliziert eine Idee der ganzen Menschheit und erlaubt deshalb nach dem Gleichheitsprinzip das Wohlwollen gegenüber sich selbst nur unter der Bedingung, dass dieses gleichzeitig gegenüber allen anderen praktiziert wird.

Die praktische Vernunft wird so als nicht solipsistisch verstanden, und ihr zufolge ist die Maxime der Selbstliebe nur mit der Maxime einer gleichen Liebe gegenüber allen anderen verträglich: „Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen praktischen Vernunft., d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig (ex solipsismus prodeuntes) sein können“ [1, Bd. V, 451]. Der Beweis dieser Behauptung geschieht über die Negation: der Solipsismus vertritt das ausschließliche Interesse für sich selbst und ist dem Schicksal der anderen gegenüber gleichgültig. Wird er zur Maxime erhoben, versucht er sich zu universalisieren, muss er sich dabei selbst widersprechen. Die Maxime, die sich nicht widerspricht und im Einklang mit der praktischen Vernunft steht, schließt ihrerseits alle ein, auch mich selbst, und macht damit den Solipsismus unmöglich.

 

5. Abschluss

Die Eigenliebe wurde im negativen Sinn als Hang der Selbstliebe aufgefasst, sich in ein objektives praktisches zu verwandeln. Der mit diesem Anspruch verbundene Widerspruch wurde bereits deutlich. Die bloße Selbstliebe bedarf aber nicht dieser Sucht, denn Sie kann sich auch als rationale Selbstliebe auffassen, wenn sie eine universalierbare Maxime als Prinzip übernimmt. Sie wird aber solipsistisch, wenn sie die Selbstliebe zur Maxime macht und sie der Liebe zu den anderen überzuordnen versucht.

Hier und auch im Fall des Solipsismus fällt der Gebrauch von lateinischen Ausdrücken auf, die in der Philosophie Kants von seiner Vorliebe für die klassische römische Literatur und Philosophie zeugen. Dies gilt insbesondere für Cicero, dessen Werk De officiis er bereits im Gymnasium gelesen hatte. Dieser Hinweis unterstützt mein Argument, dass Kant durch die Beifügung eines lateinischen Begriffs nach einem deutschen Ausdruck aufzeigen wollte, in welchen Sinn das deutsche Wort zu verstehen sei. Dies diente uns als Anleitung insbesondere bei der Übersetzung des deutschen Wortes Selbstsucht durch das lateinische „solipsismus“, und wir verdanken ihm somit den Schlüssel des Verständnisses seines deutschen Begriffs in seiner Philosophie und seiner Übersetzung in eine romanischen Sprache, womit er es uns ermöglicht hat, Missverständnisse zu vermeiden, in die seine Kritiker hinsichtlich des Begriffs der praktischen Vernunft verfallen waren.

Literatur

  1. Kant I.  Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Berlin: de Gruyter Verlag, 1900 ff.

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Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Rohden, Valerio. Kants Kritik eines praktischen Solipsismus// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2005. S. 61-71.