Michael Städtler. Vernunft, Gott und Geschichte. Über Gründe und Probleme theologischer Argumentation bei Kant
Die besondere Betonung, die religiöse Phänomene neuerdings in der Öffentlichkeit und in der Philosophie wieder erfahren, kann als rein akademische Angelegenheit erscheinen. Während nämlich Umfragen zufolge ‚religiöse Werte‘ für die Lebensgestaltung an Bedeutung verlieren [21] und während selbst die politischen Ambitionen von Fundamentalisten meistens ganz säkulare politische Zwecke verfolgen [18], betonen Philosophen die bleibende oder sogar wachsende Bedeutung des Religiösen für Gesellschaft und Politik, und zwar keineswegs erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 [1, 2, 6, 7, 16, 17]. Diese erfüllen post festum vielmehr die bizarre Funktion, die Debatte ins öffentliche Interesse zu bringen.
Dabei sollen religiöse Motive für die Möglichkeit eines sittlichen Selbstverständnisses eintreten, dessen Begründung aus moralischen Motiven, aus Vernunft also, offenbar ausgeschlossen wird. Schon Kant hatte für die Möglichkeit von Moral, die doch keiner weiteren Triebfedern bedürfte, auf die Vorstellungen von Gott und Unsterblichkeit zurückgegriffen; umgekehrt sollten auch die erkenntnistheoretischen Erörterungen theologischen und teleologischen Inhalts immer auf praktische Zwecke hingeordnet sein. Zwar sind dies keine religiösen, sondern theologische Erörterungen, aber sie werden mit ihrem praktischen Zweck letztlich durch ein religiöses Bewußtsein vermittelt, dessen Möglichkeit sie begründen, wie explizit im moralischen Gottesbeweis der Kritik der Urteilskraft vertreten wird.[1]
Warum nun die moralische Praxis solcher Erörterungen bedarf, wird gerade aus der Untersuchung ihrer erkenntnistheoretischen Funktion deutlich. Dabei ist zugleich zu zeigen, daß die Erkenntnistheorie selbst eine praktische und geschichtliche Dimension hat. Der Zusammenhang von Theorie, Praxis und Geschichte ist an der Bedeutung theologischer Bestimmungen für Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung immerhin anzudeuten.
I
In der Kritik der reinen Vernunft folgt die Theologie des transzendentalen Ideals formal aus der schroffen Trennung von intelligiblem Subjekt und empirischem Subjekt. Das empirische Subjekt wird als sinnliches von Anfang an der Naturkausalität zugeordnet, das intelligible Subjekt dagegen steht außerhalb dieser. So könnten in ihm absolute Annahmen statthaben, deren mangelnder Erfahrungsgehalt ihrer Gültigkeit nicht abträglich sei. Die Funktion dieser Annahmen soll die Erkenntnistheorie gewissermaßen über sich hinaustreiben; dies sei von Anfang an deren Ziel gewesen, denn die wissenschaftliche Erkenntnis selbst bedürfe der Reflexion ihrer Möglichkeit nicht [AA, IV, § 40]. So würden „die Vernunftideen nicht etwa, so wie die Kategorien, uns zum Gebrauche des Verstandes in Ansehung der Erfahrung irgend etwas nutzen, sondern in Ansehung desselben völlig entbehrlich, ja wohl gar den Maximen der Vernunfterkenntnis der Natur entgegen und hinderlich, gleichwohl aber doch in anderer noch zu bestimmender Absicht notwendig sein“ [AA, IV, § 44]. Dies führe zu einer Theologie, die dann aber nur in praktischer, moralischer Rücksicht von Bedeutung sei.
Ihren inhaltlichen Ausgangspunkt nimmt diese Theologie aber gleichwohl beim erkenntnistheoretischen Problem des Systems, außerhalb dessen alle Erkenntnis bloß Stückwerk sei, das aber aus der menschlichen Erkenntnis selbst nicht begründet werden könne, weil der dafür anzunehmenden Totalität kein Gegenstand möglicher Erfahrung korrespondiere. Die Vernunftidee ‚Gott‘ vertrete daher die Möglichkeit der Korrespondenz von systematischem Anspruch und Erfahrung, insofern vorstellbar sei, daß Gott die Erfahrungswelt der Vernunft adäquat geschaffen habe. Das transzendentale Ideal kann als systematischer Fluchtpunkt der Kritik der reinen Vernunft gelesen werden, insofern deren Thema die Einheit der Erfahrungserkenntnis als System ist, denn diese Einheit beruht gleichermaßen auf der Einheit des Selbstbewußtseins der Erkenntnis wie auf der Einheit des Gegenstandsbereiches der Erkenntnis. Die systematisch umfassende Kongruenz von Erkenntnis und Gegenstandsbereich der Erkenntnis ist aber aus keiner der beiden zu entwickeln. Hierfür tritt bereits in der Kritik der reinen Vernunft die Idee Gottes ein.
II
Nun wird zwar nicht in einem einzelnen Subjekt als solchem die Korrespondenz von Verstand und Vernunft hergestellt, aber doch im Progress der Wissenschaftsgeschichte, in der Verstandesdaten akkumuliert und systematisiert werden durch das Zusammenwirken Vieler über Generationengrenzen hinweg. In dieser kollektiv-geschichtlichen Gestalt von ‚Vernunft‘ kann auch der Idee systematischer Vollendung Realität zukommen. Sie entsteht nicht empirisch, und doch ist sie Vernunftbestimmung a priori nur insofern, als die Vernunft einem wesentlich kollektiven und geschichtlichen Subjekt zugehört. Die geschichtliche Erscheinung menschlicher Kollektivität ist nun aber widersprüchlich: Noch ihre grundlegenden Gemeinsamkeiten entfalten die Menschen im Kampf gegeneinander[2]. Will Kant einen widerspruchsfreien theoretischen Ausdruck der Vernunft gewinnen, so muß er die kollektive Vernunfthandlung der Menschen in einer Einheitsidee hypostasieren: In der Vorstellung Gottes ist das einig, was die Menschen zerstückeln. So ersetzt die Idee Gottes die mangelnde Einheit des geschichtlichen Handelns der Menschen, das als konkurrierendes Handeln der Einheit und Allgemeinheit wissenschaftlicher Einsicht nicht gemäß ist. So widerspricht die privatrechtliche Aneignung und Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse deren logischer Form[3]. Deshalb kann diese Form zwar als intelligible erkenntnistheoretisch aus den Erfahrungen konstruiert werden, aber ihre Rückwendung auf die empirische Welt, in der die Erfahrungen gemacht werden, ist aus der allgemeinen Form nicht mehr zu begründen, weil diese Form in der wirklichen Welt der Menschen selbst nicht vorgefunden werden kann. Deshalb postuliert die Erkenntnistheorie eine göttliche Perspektive, in der die Annäherung von Erfahrung und Begriff bis zur Übereinkunft wenigstens möglich bleibt[4].
III
Die Möglichkeit, Einheit zu denken, wird damit an eine theologische Reflexion des intelligiblen Subjekts geknüpft. Erkenntnistheoretisch sicher ist allein die logische, absolut spontane, Identität, für die — um der Kontinuität der Erfahrung willen — ein transzendentales Prinzip angenommen werden muß. Dieses ist zwar gleichfalls problematisch, aber bloß für uns, für die es doch ebenso notwendig ist, es als möglich vorauszusetzen.
Für die empirischen Subjekte ist das fatal. Ihrer selbst können sie ebenso wenig gewiß sein wie des Daseins des Absoluten, und sich selbst dürfen sie nur ebenso problematisch voraussetzen wie sie das Dasein des Absoluten voraussetzen müssen[5]. Die Subjekte müssen, um ihrer selbst bewußt sein zu können, dieses Selbstbewußtsein der Modalität nach problematisieren und durch die Vorstellung eines ihnen äußerlichen Prinzips begrenzen[6]. Insofern alle Bestimmungen der Kritik der reinen Vernunft und somit auch die (transzendentale) Einheit des Selbstbewußtseins auf die Möglichkeit des systematischen Zusammenhangs tendentiell aller Erkenntnisse zielen, sind sie vollständig erst als vom transzendentalen Ideal aus Vermittelte und stehen gewissermaßen unter dessen Vorbehalt. Mit Fichte[7] ließe sich der Fortgang der Kritik der reinen Vernunft als progredierende Vermittlung von Subjekt und Objekt fassen, in deren Verlauf immer weitere Vermittlungsglieder eingeschoben werden, immer ein weiteres Vermögen, das Denken und Gegenstand vermitteln soll. Da die Extreme auf diese Weise aber ebenso weiter auseinandertreten, steht das tranzendentale Ideal oder eine äquivalente Vorstellung in allen Teilen der Philosophie Kants als die Extreme überwölbendes Prinzip ein, das aus keinem der Extreme abgeleitet werden kann, also sich auch zum Subjekt äußerlich verhält. — Daß dieses äußerliche Prinzip bloß regulativ sei, daß die Vernunft es „mit nichts als sich selbst“ [B 708, 714]. zu tun habe, stellt dabei keinen Vorteil dar, denn im Selbstbewußtsein, dem Bewußtsein ihrer Subjektivität, hängen die Subjekte von der Vorstellung des nur als ihnen äußerlich vorzustellenden Prinzips notwendig ab, [B 705 f] welcher Modalität der Gegenstand dieser Vorstellung auch sein mag: Es bleibt „der unseren Begriffen sich entziehende Grund“ [B 709][8]. Subjekte wissen sich als selbstbewußte und selbstbestimmte Subjekte durch eine Vorstellung heteronomen Gehalts. Deshalb ist das Selbstbewußtsein solcher Subjekte in sich widersprüchlich. Der regulative Gebrauch der Ideen mag als ‚heuristisches Prinzip‘, als Methode wissenschaftlicher Welterkenntnis für diese unschädlich oder sogar nützlich sein, wenn ihr konstitutiver Gebrauch streng vermieden wird; [B 717 ff] für das Selbstbewußtsein der Subjekte bleibt es katastrophal.
Wenn das Dasein Gottes regulativ angenommen werden darf, weil es kategorial problematisch ist, heißt das, es darf angenommen werden, weil es sein kann oder auch nicht sein kann. Wäre es nun, so wäre Autonomie auf Heteronomie gegründet und das Subjekt auf einen Widerspruch; — wäre es nicht und müßte dennoch angenommen werden, so wäre das Subjekt ebenso auf einen Widerspruch gegründet. Der Problemstatus des Ideals ist ein schwebendes Verfahren zwischen zwei möglichen, jeweils vernichtenden, Urteilen; Kants Trick, daß ein Urteil hier nicht zu fällen sei, macht das auf Autonomie bedachte Subjekt allerdings zu einem Toten auf Dauerurlaub: Seine Existenz ist durchaus durch seine eigene Nichtigkeit bestimmt.
Zwar wurde das Ideal zur Überbrückung der Diskrepanz von Begriff und geschichtlicher Erfahrung erschlossen, aber unter der Voraussetzung des „notwendigen Urwesens“ [B 707], das den Weltlauf anordnet, ist nun keine Geschichte mehr denkbar, die von den Menschen mit vernünftigen Zwecken selbst gemacht würde. Der auf Ermäßigung der theologischen These zielende Ausdruck, es sei einerlei, ob Gott oder Natur den Weltlauf angeordnet hätte, [B 727] schlägt mit Wucht ins Subjekt zurück, denn die Geltung des heteronomen Prinzips wird durch die Gleichgültigkeit seiner inhaltlichen Gestaltung nur noch verstärkt. Kants Erkenntnistheorie ist auf eine allgemeine Teleologie angelegt, [B 714 f] in der die antagonistische Subjektivität zur „Harmonie“ [B 706] reflektiert werden soll. Da solcher Harmonie aber in der Erfahrung der Subjekte nichts entspricht, fallen ihre Prinzipien so brüchig aus. Die Größe Kants liegt letztlich darin, die enttäuschende Wirklichkeit in Begriffen zu denken; zu kritisieren ist die Affirmation dieser Begriffe, die doch allesamt negative sind.
IV
Das Bewußtsein geschichtlicher Vermittlung der Diskrepanz von Idee und Erfahrung kann dagegen nur in der Antizipation von Autonomie als Widerstand gegen Heteronomie bestehen. Dieses Bewußtsein, bei Kant Freiheit im negativen Verstande, ist durchgängig negativ. Das hat es mit Kants Proklamation der Regulativität der Ideen gemeinsam. Jeder affirmative Gehalt, bestimmte Vorstellung der Freiheit, verkehrte dieses Bewußtsein in ein utopisches, das seinen Ort und seine Zeit nicht dort hat, wo das Subjekt, dessen Bewußtsein es ist, lebt. Utopisches Bewußtsein ist nicht länger Selbstbewußtsein dieses Subjekts, denn es hat keinen objektiven Gegenstand.
Die Negativität des geschichtlichen Selbstbewußtseins, die in Kants Ideenreflexion zu ahnen ist, gründet in einer Antizipation der kollektiven Selbstbestimmung und in dieser Kollektivität der Gattung liegt seine Idealität, wenngleich eine negative Idealität; denn negativ ist diese, weil sie ihren Gehalt allein aus der geschichtlichen Bestimmtheit desjenigen Bewußtseins bezieht, das sich gegen die Erfahrung der gescheiterten und verhinderten Kollektivität, in Abgrenzung zu dieser, bestimmt. Es versucht, die partikularen oder verkehrten Realisierungen kollektiver Freiheit unter Formen der Vernunft zu denken, um jene bestimmten Erfahrungen zur begrifflichen Allgemeinheit zu bringen. Da die subjektive Vernunft, in der allenfalls eine unmittelbare Einsicht in die eigene Subjektivität gründet, bloß formaler Natur ist und deshalb der geschichtlich bestimmten Inhalte bedarf, ist das empirisch konstituierte Subjekt immer zugleich allgemein und geschichtlich verfaßt. In seiner Allgemeinheit hat es die Möglichkeit zur autonomen Bestimmung auch durch die Geschichte hindurch, aber keinesfalls eine Garantie auf Autonomie. Dieselbe geschichtliche Bestimmtheit, durch die ein Subjekt Selbstbewußtsein realisiert, enthält nämlich auch autoritäre, heteronome Erfahrungen, die den Impuls zu geschichtlicher Selbstbestimmung lähmen können. Diese von Kindheit an im Alltagsleben gesammelten und über Generationen variierten und tradierten Erfahrungen bringen das hervor, was ‚Volksgeist‘ heißen mag, in Wirklichkeit aber wohl ein Panzer aus lange verhärteten Gewohnheiten, Interessen und Traditionen ist, den Reflexion kaum mehr durchdringt; im Unterschied zur gemeinschaftlich angebildeten geschichtlichen Erfahrung müßte diese Durchdringung jeder Einzelne selbständig leisten. Darin — in der Not, selbst denken zu müssen — hat die Vereinzelung der Subjekte in Kants theoretischem wie praktischem Subjektbegriff einige Wahrheit.
V
Unwahr ist aber an Kants Vereinzelung der Subjektivität, besonders in moralischer Hinsicht, die Generalthese von der anthropologischen Unvollkommenheit der Menschen, dem ‚krummen Holze‘, aus dem nichts ganz Gerades zu machen sei. Wegen der menschlichen Unvollkommenheit könne moralische Vollständigkeit, wie die epistemische, nur sub specie aeternitatis vorgestellt werden. Im einzelnen bleibt dann jeder darauf angewiesen, seine individuellen Neigungen zu überwinden; durch die allgemeine Form der Vernunft hätte der Einzelne dann nur insoweit am Zusammenhang der menschlichen Gattung teil, als er seine Besonderheit tilgte. Er ist nicht als Handelnder aktuell Teil der Gattung, sondern nur potentiell durch die Form der Reflexion. — Aber daß die Menschen krumm sind, ist selbst Resultat von Geschichte: Sie sind nicht sowohl krumm als gekrümmt worden. Die akkumulierte Erfahrung der jahrtausendelangen Variationen von Unterdrückung und Gewalt wird nicht in jeder neuen Generation, in jedem neuen Menschen, abgelegt, so daß diese frei wären für Neues, sondern jene Erfahrung bestimmt das Bewußtsein jeder neuen Generation und noch das des ‚gemeinsten Menschen‘, wie Kant sich auszudrücken liebt. Noch derjenige, der gar nichts von Geschichte weiß, lebt ganz in ihr, weil er überhaupt zu leben gelernt hat in einer Welt, deren soziale, politische, ökonomische, technische und kulturelle Gestalt als Resultat der Geschichte auch deren Verheerungen, wie sublim auch immer, transportiert. So bestimmt das geschichtliche Selbstbewußtsein sich wie durch eine regulative Idee, die dieses Bewußtsein nötig hat, um sich zu denken, deren Objektivität aber problematisch bleibt. Und damit wäre die ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘ tatsächlich die einzig mögliche Daseinsform menschlicher Freiheit, allerdings mit einem Unterschied ums Ganze: Das über seine Geschichte aufgeklärte Bewußtsein weiß, daß sein Mangel in der Vereinzelung der Subjekte zu Antagonisten gründet und daß dieser Antagonismus keine Naturnotwendigkeit ist, sondern daß ihm als geschichtlich begründetem zu widerstehen wäre, ohne über Erfolgsaussichten pragmatisieren zu müssen. Deshalb führt die Einsicht in dieses problematische Dasein von Moral nicht zu einem transzendentalen Postulat oder Ideal Gottes, sondern zur moralischen Idee der Menschheit in der Zeit. Grundzüge dieser moralischen Idee hat Kant in der Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft entwickelt, indem er die kollektiv geschichtliche Bedingtheit subjektiver Moralität als historischen Entwicklungsprozeß einer dezidiert durch moralische Gesetze sich bestimmen wollenden Gemeinde, prinzipiell aller Menschen, vermittelt. Doch auch hier greift Kant auf Motive transzendenten Beistands zurück[9].
VI
Der Entschluß der Vernunft zur moralischen Freiheit ist nicht sowohl der einer zeitlosen Spontaneität; aber unter Bedingungen der Unfreiheit kann er nur so erscheinen, weil nichts Empirisches auf ihn auch nur hindeutet. Daß dies ein Schein ist, belegt die Schwierigkeit dessen, was Kant ‚akademische Unterweisung‘[B 783] nennt und was heute an den Hochschulen immer weniger stattfindet: Die Bildung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein und zum autonomen, gemeinschaftlichen und konsistenten Denken [AA, V, S. 294][10]. Solche Bildung verläuft in der Zeit und arbeitet zugleich gegen sie. Spontaneität setzt sie als formale Bedingung voraus, deren Absolutes gleichsam verschüttet und traumatisiert ist. — Die unbefriedigende Einsicht, daß alle Aufklärung die Menschen wohl zum Widerstand gegen die Hindernisse ihrer Selbstbestimmung anhält, sie aber nicht an ein unwiderrufliches Ziel zu führen vermag, würde in einem kritischen Begriff von Freiheit allerdings nicht zur Affirmation ewigen Strebens verschnörkelt; gleichwohl hat diese Einsicht in die Fragilität auch gelungener Aufklärung einiges Befreiende: Sie bewahrt vor der selbstgefälligen Attitude, sich als Sieger, Vollender von Geschichte zu präsentieren, wodurch Freiheit in ihrem vorgeblichen Endzustand noch stets um ihren Grund betrogen wurde. Jene Einsicht hält dazu an, wenigstens solche Gründe, die notwendig zur Unfreiheit führen — Gewalt und Unmündigkeit — aufzuheben, wo immer dies möglich ist.
Das Vertrauen einer ‚starken‘ Kant-Interpretation in den intelligiblen Charakter der Menschen mag zweifelhaft sein. Das implizite Mißtrauen in Vernunft aber, das die pragmatisierenden Kant-Interpretationen trägt, muß schon aus systematischen Gründen ohne vernünftige Begründung auskommen und setzt so auf bloße Überredung der Menschen. Daher, und aus der Geschichtlichkeit von Subjektivität, erklärt sich ihr Erfolg, und daher erklärt sich auch die Bereitschaft von ‚religiös Unmusikalischen‘, im ‚öffentlichen Diskurs‘ verstärkt ‚Anleihen bei der religiösen Semantik‘ zu machen [7]. — Doch dies mißrät zu dem unglücklichen Versuch, dem Bewußtsein eine Identität anzuschaffen; konträr bestätigt dieser Versuch nämlich gerade die Zerrüttung des Bewußtseins, weil der Zweifel am Vertrauen in die eigene Vernunft nur von dieser selbst ausgehen kann. Würde dies — der autonome Kern von Subjektivität — zu Bewußtsein gebracht, so wäre jener Zweifel nicht notwendig Selbstzweifel, sondern das fassungslose Staunen darüber, daß die Leidensgeschichte der menschlichen Gattung und Gesellschaft für die Vernunft nicht Grund genug zu sein scheinen, einen Weg einzuschlagen, der vor ihr — der Vernunft — bestehen könnte. — Mit dem Staunen, thaumazein, dem Schrecken vor dem Unbekannten, begann die philosophische Überwindung des Naturzwangs, deren geschichtliche Entwicklung diesen bloß transformierte; denn die Zwänge, die Menschen anderen Menschen antun, sind in Wahrheit um nichts mehr als Naturzwänge, denn ihr Vermögen zu zwingen folgt keinem Argument, sondern der stärkeren politischen Kraft; doch diese Naturzwänge zweiter Natur richten ungleich größeren Schaden an, weil sie von an sich freien Wesen selbst gesetzt werden. Auf der Überwindung dieser Zwänge durch die Bildung autonomer Vernunft zu insistieren, bleibt Aufgabe von Philosophie. Die Vermittlung von Freiheit und Natur, von Idee und Erfahrung, ist dagegen keine Aufgabe der Philosophie, sondern des geschichtlichen Handelns, in dem technische und moralische Praxis gemeinsam realisiert werden müßten. Solche Realisierung läßt sich nicht ausdenken, sondern nur praktisch herstellen.
Ob aber der erneuerte Rekurs auf Religion bei der Lösung dieser Aufgaben weiterhilft, darf wohl bezweifelt werden. Seine Plausibilität bezieht dieser Rekurs indes daher, daß die subjektimmanente Spaltung von Denken und Erfahrung, die Diskrepanz von Freiheit und Natur, gattungsgeschichtlich eben nicht überwunden ist, sondern durch die mächtige Vertretung partikularer Interessen geschichtlich geradezu institutionalisiert wurde.
Literaturverzeichnis
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10. Kant I. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. IV, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff.
11. Kant I. Kritik der Urteilskraft // Kant’s gesammelte Schriften, Bd. V, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin1900ff.
12. Kant I. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht // Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VII, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff.
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14. Kant I. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hrsg. v. Bettina Stangneth, Hamburg: Meiner, 2003.
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19. Schiller F. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? // Universalhistorische Schriften, Frankfurt am Main: Insel, 1999.
20. Schnädelbach H. Vernunft, Stuttgart: Reclam, 2007.
21. Umfrage: Religion verliert an Bedeutung // ZEIT-online, 17. 10. 2008. URL: http://www. zeit. de/news/artikel/2008/10/17/2638918.xml.
Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Städtler, Michael. Vernunft, Gott und Geschichte. Über Gründe und Probleme theologischer Argumentation bei Kant// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 2, S. 255 – 267.
[1] Die neuere Diskussion hat die Bedeutung religiöser und theologischer Motive als solcher für Kants Philosophie mittels einer meist wenig kritischen Rezeption der Figur der regulativen Idee weitgehend abgeschliffen, um Kants Moralbegriff für die säkulare Gesellschaft praktikabel zu machen. Wenngleich sich Moral säkular rekonstruieren läßt, stehen dem bei Kant eben doch einige Schwieirgkeiten im Wege, deren Reflexion auch Probleme im Moralbegriff selbst offenlegen kann [3].
[2] Vgl. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [AA, VIII, S. 22].
[3] „was Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben“ [19, S. 16].
[4] Der theoretische Gottesbegriff bleibt problematisch, aber der ‚Drang‘, ihn anzunehmen, bleibt ebenso, da die Möglichkeit allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis der endlichen partikularen Subjekte zunehmend daran hängt. Von hier aus erscheinen die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft als erkenntnistheoretische Unternehmen: Nur die praktische Absicht erlaubt es, den problematischen Begriff Gottes als Postulat zu befestigen und schließlich im moralischen Beweis vom Dasein Gottes noch einmal groß durchzuführen Vgl. KdU [AA, V, §§ 87—91]. Dieses Vorhaben war für Kant in der Kritik der reinen Vernunft offenbar schon leitend.
[5] Ein großer Teil der Kant-Forschung sieht Kant allerdings als Säkularisierer, mit dem die Theologie für die Philosophie bedeutungslos geworden sei: [4, S. 12f.]. Vgl. auch Schnädelbach H. Vernunft: „Kants Kritik aller Gottesbeweise bedeutete hier einen wohl endgültigen Schlußpunkt“ [20, S. 70].
[6] Vgl. dagegen Henrich D. Fichtes ‚Ich‘ [9, 78]: Die Annahme von Gott als Grund von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung schränke Freiheit nicht ein, sondern gebe ihr einen unerschütterlichen Grund.
[7]„Es ist […] bey jeder Synthesis […] in der Mitte alles richtig vereinigt und verknüpft; nicht aber die beiden äussersten Enden. Diese Bemerkung zeigt uns von einer neuen Seite das Geschäft der Wissenschaftslehre. Sie wird immer fortfahren Mittelglieder zwischen die Entgegengesezten einzuschieben; dadurch aber wird der Widerspruch nicht vollkommen gelös’t, sondern nur weiter hinausgesezt. Wird zwischen die vereinigten Glieder, von denen sich bei näherer Untersuchung findet, daß sie dennoch nicht vollkommen vereinigt sind, ein neues Mittelglied eingeschoben, so fällt freilich der zulezt aufgezeigte Widerspruch weg; aber um ihn zu lösen, muste man neue Endpunkte annehmen, welche abermals entgegengesezt sind, und von neuem vereinigt werden müssen. Die eigentliche, höchste, alle anderen Aufgaben unter sich enthaltende Aufgabe ist die: wie das Ich auf das Nicht-Ich; oder das Nicht-Ich auf das Ich nmittelbar einwirken könne, da sie beide einander völlig entgegengesezt sein sollen. Man schiebt zwischen beide hinein irgend ein X, auf welches beide wirken, wodurch sie denn auch zugleich mittelbar auf einander selbst wirken. Bald aber entdekt man, daß in diesem X doch auch wieder irgend ein Punkt seyn müsse, in welchem Ich und Nicht-Ich unmittelbar zusammentreffen. Um dieses zu verhindern schiebt man zwischen und statt der scharfen Grenze ein neues Mittelglied = Y ein. Aber es zeigt sich bald, daß in diesem ebenso wie in X ein Punkt seyn müsse, in welchem die beiden entgegengesezten sich unmittelbar berühren. Und so würde es in’s unendliche fortgehen, wenn nicht durch einen absoluten Machtspruch der Vernunft, den nicht etwa der Philosoph thut, sondern den er nur aufzeigt — durch Den: es soll, da das Nicht-Ich mit dem Ich auf keine Art sich vereinigen läßt, überhaupt kein Nicht-Ich seyn, der Knoten zwar nicht gelös’t, aber zerschnitten würde.“ [5, S. 300f.]. Fichte erfaßt hier ein methodisches Problem, das auch für die Kantische Transzendentalphilosophie charakteristisch ist, und tritt sozusagen die Flucht nach vorn an, indem er im absoluten Ich absolute Vermittlung voraussetzt. Kant fängt die Postponierung der Vermittlung schließlich im transzendentalen Ideal und äquivalenten Begriffen auf. Hegel verbindet beides durch Subjektivierung des Absoluten in der Auffassung der Logik als „Darstellung der Gedanken Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“.[8, Bd. 5, S. 44].
[8] Weil Kant diese Vorstellung als positives Vorbild fassen will, gerät sie ihm zur Personifikation im Ideal, worunter die „Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“ [ B 596] zu verstehen sei. Vgl. auch KrV [B 612]: „Wenn etwas, was es auch sei, existiert, so muß auch eingeräumt werden, daß irgend etwas notwendigerweise existiere. Denn das Zufällige existiert nur unter der Bedingung eines anderen, als seiner Ursache, und von dieser gilt der Schluß fernerhin, bis zu einer Ursache, die nicht zufällig und eben darum ohne Bedingung notwendigerweise da ist. Das ist das Argument, worauf die Vernunft ihren Fortschritt zum Urwesen gründet.“
[9] Vgl. Religion.
[10] zur Einschränkung dieses Gedankens aber auch [AA, VII, S. 200; 228].