Ernst-Otto Onnasch. Die erste Rezeption der Philosophie Immanuel Kants in der Niederlande
Interesse für die eigene Philosophiegeschichte ist in der Niederlande erst sehr spät entstanden. Der entscheidende Anstoß dazu kam von dem katholischen Philosophieprofessor Ferdinand Sassen in 1940/41 [29, 69-85].[1] Obwohl das Datum schlimmes vermuten lassen könnte, darf man ihm wohl keine nationalistische Sympathien unterstellen. In den späten fünfziger Jahren erscheint von seiner Hand das bislang noch immer nicht ersetzte Standardwerk zur niederländischen Philosophiegeschichte. [28] Dieses Buch hat zweifellos seine Verdienste, anderseits handelt es sich dabei auch um eine Pioniersleistung, die oft mit entscheidenden Schwächen im Detail behaftet sind. Hier gilt das insbesondere für die Darstellung des niederländischen Frühkantianismus. Nach dem Erscheinen dieses epochalen Werkes ist zu diesem Thema, abgesehen von einigen Aufsätzen kaum mehr grundlegend Neues publiziert. Und das, obwohl sich z. B. fast alle großen niederländischen Dichter dieser Zeit in irgendeiner Weise mit Kant auseinandergesetzt haben und auch nicht wenige einflußreiche Politiker starke Sympathien für die kantische Philosophie besaßen, was sich auch in Dissertationen und Publikationen niedergeschlagen hat.[2] – Die heutige historiographische Erforschung der niederländischen Philosophiegeschichte beschäftigt sich hauptsächlich mit dem frühen 18ten und 17ten Jahrhundert.
Das allgemeine Desinteresse für die eigene Philosophiegeschichte ist sicherlich auch ein wichtiger Grund dafür, daß es ziemlich traurig steht um die relevanten Quellen und Archive. Davon ist insbesondere die Erforschung des niederländischen Frühkantianismus betroffen. Viel Material ist entweder verloren oder, wenn überhaupt, nur unter größtem Aufwand auffindbar. Wenig hilfreich ist in dieser Hinsicht leider auch die Philosophiegeschichtsschreibung im 19ten Jahrhundert. Sie ist nicht nur spärlich, geht kaum auf den Kantianismus ein, vor allem aber ist sie von einer teilweise abstrusen Sicht der eigenen Philosophiegeschichte getragen.[3] Die frühen Darstellungen bemühen sich besonders, den nationalen Charakter der eigenen Philosophie herauszustellen, indem der schlichte und gesunde Verstand der Holländer hervorgehoben und als Quelle philosophischen Denkens gelobt wird. Es dürfte einleuchten, daß solche Vorurteile nicht gerade förderlich sind für eine historisch gewissenhafte Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophen. Außerdem stand die Universitätsphilosophie im späten 18ten und frühen 19ten Jahrhundert unter starkem Einfluß der Altphilologie, die damals auch im internationalen Vergleich ein sehr hohes Ansehen genoß. Und besonders in diesem Lager sind die energischsten Gegner der neuen Philosophie aus Königsberg zu suchen. Daniel Wyttenbach (1746-1820), sein Schüler Philip Willem van Heusde (1778-1839) oder Dionysius van de Wijnpersse (1724-1808) haben nachsichtslos, und man kann sagen mit Erfolg gegen die niederländischen Verteidiger der kantischen Philosophie gewettert, weil diese die Schlichtheit, den gesunden Verstand und Religionssinn des niederländischen Geistes vergifte.
In den späteren Philosophiegeschichten wird man zunehmend skeptischer gegenüber den eigenen philosophischen Leistungen. Daß die niederländische Philosophie rückständig sei, bzw. der leitenden Philosophie um viele Jahrzehnte hinterherlaufe, wird dann zu den oft gehörten Verdikten.[4] Solche Selbstbewertungen zeigen eindrucksvoll, wie sehr die eigenen philosophischen Leistungen in Vergessenheit geraten sind. Und als man sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg an eine Wiederaufbereitung der eigenen Philosophiegeschichte machte, waren zunächst einmal starke Vorurteile aufzuräumen. Unter diesen Umständen wundert es vielleicht auch wenig, daß besonders Nicht-Niederländer die historische Forschung vorangetrieben haben. Der Engländer Michael Petry (†) hat diesbezüglich großes geleistet. Jedenfalls wissen wir inzwischen, daß man von der niederländischen Philosophie, auch der des späten 18ten Jahrhunderts, sicher nicht behaupten kann, sie sei rückständig. Das gilt besonders für die niederländische Kant-Rezeption. Wahr ist freilich, daß sich die Philosophie anders entwickelt als z. B. im Deutschen Reich, Frankreich oder England.
Der besondere Weg der niederländischen Philosophie in der Niederlande hängt einerseits eng mit dem niederländischen Kalvinismus und anderseits mit der Rolle der Universitäten zusammen. Der Kalvinismus hatte einen starken Einfluß auf die starren Standesgrenzen, die wiederum verhinderten, daß es aus den unteren, ja selbst mittleren Klassen Studenten an den niederländischen Universitäten gab (auch nicht in der Theologie). Die Universitäten waren aus heutiger Sicht ziemlich elitäre Anstalten. Und das hatte Auswirkungen auf das Lehrangebot, das ziemlich konservativ und wenig erneuerungsbedürftig blieb. Aber vielleicht hat auch einfach Zufall verhindert, daß sich die kantische Philosophie an den Universitäten durchzusetzen vermochte. Anfang der neunziger Jahre erscheint diese Philosophie zwar auf einigen Kathetern – Gerrit van der Voort (1764-1793) hält 1790 in Groningen eine Vorlesung über Kant [17, 104] und 1792 ruft Antoine Chaudoir in Franeker seine Studenten dazu auf, sich in die Philosophie Kants zu vertiefen[5] –, für einen Durchbruch der kritischen Philosophie sollte das allerdings nicht reichen. Zumal Chaudoir kaum etwas veröffentlicht hat und auch der Stern der kleinen Universität Franeker zu diesem Zeitpunkt stark sinkend war. Van der Voort stirbt schon in 1793. Seine Hauptschrift, eine Anthropologie aus 1790 mit eklektischen Zügen, verrät nicht, daß seine Einsichten in die Philosophie Kants besonders tiefgreifend waren. [35][6] Wohl sieht man unter den Juristen ein verstärktes und damit auch gleich folgenreiches Interesse für die kantische Philosophie entstehen. Einige später sehr einflußreiche niederländische Staatsmänner setzt sich gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts intensiv, auch in Dissertationen mit der kritischen Philosophie auseinander.
Entscheidend für ein adäquates Verständnis der niederländischen Kant-Rezeption ist allerdings, daß sie nicht an den Universitäten, sondern vornehmlich in Amsterdamer Salons stattfindet.[7] Die beiden treibenden Kräfte dieser Rezeption sind Paulus van Hemert (1756-1825) und Johannes Kinker (1764-1845). Leider ist über den Weg der intellektuellen Aneignung der Kantischen Philosophie bei ihnen kaum näheres bekannt. Der in Amsterdam geborene Van Hemert ist seit 1781 Pastor in der Reformierten Kirche. In 1784 wird ihm allerdings die Predigterlaubnis entzogen, was ein kleiner Skandal war, da dergleichen damals kaum vorkam. Streitpunkt war das Verhältnis von Vernunft und Glaube. Nach Ansicht der Kirche schrieb Van Hemert der Vernunft hinsichtlich des Glaubens zuviel Autorität zu. Der Pastor beugte nicht vor der kirchlichen Autorität und mußte seine Konsequenzen ziehen. Ab 1784 verwickelt er sich dann in einen öffentlichen Streit mit seinem gemäßigt orthodoxen Lehrer Gijsbert Bonnet. Van Hemert attackiert hier die kirchliche Lehrmeinung, daß die Vernunft verdorben sei und kehrt sich außerdem gegen die Lehre der Prädestination. [9] In 1787 verteidigt er – und das ging nicht anders als anonym [27] – die gerade erschienene holländische Übersetzung von Joseph Priestleys Institutes of Natural and Revealed Religion [25] gegen den Unsinn, der seines Erachtens dagegen von einigen vornehmlich Predigern in einer Preisschrift vorgebracht worden ist. [33]
Der andere Amsterdamer Kinker hat einen areligiösen Hintergrund. Sein Interesse für Kant hängt hauptsächlich mit seinen aufgeklärten Ideen über Weltbürgertum zusammen.[23] Nicht unerwähnt bleiben darf hier, daß Kinkers ausführliche und zuerst auf Niederländisch erschienene kommentierende Interpretation der KrV auch ins Französische übersetzt ist und die dortige Kant-Rezeption stark mitbeeinflußt hat. [20]
Die Niederlande ist, soweit ich sehe, das erste Land außerhalb des deutschen Reiches wo eine intensive Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie stattfindet.[8] In 1798 erscheint in Amsterdam sogar die erste nicht-deutschsprachige Zeitschrift, die ganz der kritischen Philosophie gewidmet ist: das Magazyn voor de critische wijsgeerte en de geschiedenis van dezelve (Magazin für die kritische Philosophie und deren Geschichte). Bis 1803 werden noch fünf Bände folgen. In 1804 wird das Magazyn nachgefolgt von der mehr allgemeinkulturellen Zeitschrift Lektuur bij het ontbijt en de thetafel (Lektüre bei dem Frühstück und dem Teetisch – bis 1808 erscheinen 10 Bände). Der Herausgeber beider Zeitschriften ist Paulus van Hemert, dessen Verdienste um den niederländischen Kantianismus nicht hoch genug veranschlagt werden können.
Die niederländische Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie setzt mit drei Preisfragen der Haarlemer Akademie der Wissenschaften bzw. Hollandsche Maatschappye der Wetenschappen ein. Die eine Preisfrage wird in 1787, die folgende 1789 und die dritte in 1791 ausgeschrieben. Für alle drei Fragen spielt der Amsterdamer Mennonietenpastor Allard Hulshoff (1734-1795) eine entscheidende Rolle,[9] sofern er die erste Preisfrage gewinnt, die zweite initiiert und der Jury angehört und die dritte formuliert und ebenfalls der Jury angehört.
Hulshoff scheint überhaupt eine wichtige Rolle für die niederländische Kant-Rezeption gespielt zu haben, was allein schon deshalb bemerkenswert ist, weil er nämlich nicht wie Kinker und Van Hemert der jüngeren Generation angehört, sondern nur 10 Jahre jünger ist als Kant. Hulshoff stammt aus einer Groninger Kaufmannsfamilie. In 1749 immatrikuliert er sich an der dortigen Universität. Einer seiner wichtigsten Lehrer ist der aus der Schweiz stammende Nikolaus Engelhard (1696-1765),[10] Professor für Logik, Mathematik und Physik und kritischer Anhänger der Leibniz-Wolffischen Schule. Am 30. Dezember 1755 promoviert er in Groningen mit einer Dissertation über den apriorischen Gottesbeweis. [12] Anschließend geht er nach Amsterdam, wo er 1760 Pastor einer Mennonietengemeinde wird und sich zugleich vom Wolffianismus entschieden distanziert.[11] Das bezeugt seine in 1758 veröffentlichte Abhandlung über die beste aller Welten. Hierin kritisiert er Leibniz’ Auffassung, daß in der besten aller möglichen Welten – in der wir ja leben – das Gute und Schlechte bereits optimal verteilt ist, weshalb auch nicht einzusehen ist, wie sich überhaupt noch die sittliche Vollkommenheit der Welt vergrößern läßt. Leibniz’ Optimismus hat einen moralischen Fatalismus zur Folge, weshalb er auch aufs schärfste bekämpft werden müsse. Sein Buch erfährt 1758 übrigens auch in Deutschland eine gute Presse. [6] Kant hatte es im Besitz, es ist ihm jedoch 1790 von Hulshoff selbst geschenkt. [19, 188]
In 1790 bzw. 1791 schreibt Hulshoff Kant zwei ausführliche Briefe, wobei er dem ersten Brief auch einige seiner Schriften beilegt. Doch gibt es viel frühere Verbindungen. So wird Kants Berliner Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral zusammen mit Hulshoffs Einsendung „De evidentia in metaphysices et theologiae religionisque naturalis principiis“ in den Dissertationes ad quaestionem de Evidentia ab Academia Regia Berolinensi propositam, spectantes, Berlin 1764, gedruckt.[12] Möglicherweise war es diese alte Verbindung, wodurch Hulshoff in den späten achtziger Jahren wieder auf Kant aufmerksam wird.
Nicht klar ist, ob Kant die beiden Briefe Hulshoffs beantwortet hat. Weil allerdings die erste Zeile des zweiten Briefes vom 26. Mai 1791 gleich medias in res geht: „Op de vraag der Holl. Maats. wegens het Kantisch Bewys etc, zyn 7 Verhandelingen ingekomen“ (auf die Frage der Hollandsche Maatschappye der Wetenschappen anläßlich des Kantischen Beweises sind 7 Abhandlungen eingegangen), kann man mutmaßen, daß Kant den ersten Brief mit der Bitte beantwortet hat, ihn anläßlich des Verlaufs der Preisfrage auf dem laufenden zu halten. Soweit ich sehe erwähnt Kant Hulshoff leider sonst nirgends explizit, weshalb wir auch nicht wissen, was er philosophisch von ihm gehalten hat.
Doch Kommen wir zurück auf die drei Preisfragen der Haarlemer Maatschappye. 1787 wird nach einer Beurteilung des von Moses Mendelssohn in den Morgenstunden formulierten Gottesbeweis aus der Unvollkommenheit unserer Selbsterkenntnis gefragt.[13] Nach dem Willen der Akademie sollte auch die Schrift des Hallenser Kantianers Ludwig Heinrich Jakob mitberücksichtigt werden, und zwar dessen Prüfung der Mendelsshohnschen Morgenstunden (1786). [15] Dieser Schrift geht bekanntlich eine Vorrede von Kant voran. [14, 151-155] Außerdem verfolgt sie ausdrücklich den Zweck, die Philosophie Kants gegen mögliche Einwände der Morgenstunden zu verteidigen. In 1789 werden aus den 8 eingegangenen Abhandlungen die von Gerrit van der Voort und Allard Hulshoff prämiert. [14/15, 1-88; 89-124] Obwohl keiner der beiden Preisträger näher auf Kant eingeht, macht Hulshoff am Anfang und am Schluß seiner Preisschrift einige Bemerkungen über die Bedeutsamkeit der Kantischen Philosophie. Er empfiehlt der Akademie, die Philosophie Kants in der Niederlande bekannter zu machen (Hulshoff war außerdem seit 1770 Mitglied der Maatschappye).[14]
Leider ist auch über die Hintergründe des Hulshoffschen Kant-Interesses kaum etwas bekannt. Allerdings entwickelt er spätestens seit 1787 soviel Gespür für das neue Denken aus Königsberg, daß er es zumindest wertschätzen kann. Einverstanden mit der kantischen Philosophie ist er nicht. Zwar ist ihm Kants praktische Philosophie “hoogsdierbaar” [lieb und teuer] und “gewigtig” [bedeutsam] und ist er besonders gut zu sprechen über die „reine und vollkommenen Unterscheidung zwischen dem Moralischen und Physischen“, wie aus seinem sehr ausführlichen Brief an Kant vom 5. Augustus 1790 hervorgeht. Er beklagt sich aber auch über die schlechte Lesbarkeit der KrV, besonders wegen des parenthetischen Stils. Etwas pedantisch wirken seine Empfehlungen, mehr im Sinne der Engländer und Franzosen zu schreiben. Außerdem bemängelt er das Fehlen von einem Register mit Definitionen.[15] Inhaltlich bemängelt Hulshoff – wie später auch Fichte – die Kategorienlehre, welche ihm vorkommt als “uit de lugt gevallen” [aus der Luft gefallen]. Schließlich bittet er Kant, auch im Namen vieler anderer darum, sich näher über die Existenz von Gott und der Seele, bzw. über alles “Beharrliche” außerhalb von Raum und Zeit zu erklären, wobei er an KpV 155 und 206 referiert, und er fordert Kant außerdem auf, diese Aufklärung nicht seinen Schülern zu überlassen. Offensichtlich befinden sich in der Umgebung Hulshoffs mehrere Leute, die sich mit der Philosophie Kants beschäftigt haben, insbesondere aber unzufrieden sind mit dem, was Kant über Gott und Unsterblichkeit sagt. Wie diese Umgebung aussieht, ist nicht bekannt und läßt sich wegen der spärlichen Quellen auch nicht rekonstruieren. Daß Van Hemert dazugehört, ist jedoch sehr wahrscheinlich, da dieser in seinem ersten Aufsatz von 1792 zur praktischen Philosophie Kants verschiedene Themen Hulshoffs aufgreift und ebenfalls unzufrieden ist mit Kants Lösung von Unsterblichkeit und Gottesexistenz. [10, 37-78]
Dann bombardiert Hulshoff Kant in seinem zur Rede stehenden Brief mit vielen Fragen zu seiner praktischen Philosophie, die klar zeigen, daß er in viele Grundprobleme der Moraltheorie tief durchgedrungen ist. So will er etwa wissen, ob irgendein moralisch Böses durch ein bonum physicum kompensiert werden könne, etwa das Vaterland zu erhalten, durch eine Lüge.
Mir ist nicht recht klar, was Hulshoff mit seinem ersten Brief an Kant genau beabsichtigte. Bemerkenswerterweise hält er ihn für einen orthodoxen Christen, weil er, entgegen den damals vorherrschenden Auffassungen nicht die Glückseligkeit als höchsten Zweck setzt, sondern das moralisch Gute. Er beschließt seinen Brief mit der feurigen Bitte, daß Kant für seine “nietphilosophische MeedeChristenen … het characteristique van het Christendom … vindicere(n). Zeer verre zou zig de Invloed uitbreiden. Het zou een dierbaar Geschenk zyn, tot afscheid aus dieser Sinnenwelt.” Es wird noch einige Jahre dauern, bis Kant seine Religionsschrift veröffentlicht. Hulshoffs Tod in 1795 kommt zu früh, darauf antworten zu können.
In 1789 schreibt die Hollandsche Maatschappye der Wetenschappen eine Preisfrage aus, die unmittelbar auf die Philosophie Kants selbst eingeht. Gefragt wird, was von dem moralischen Gottesbeweis zu halten sei, wie dieser von Kant unter Hinweis auf KrV A 804-818 und KpV 223-238 formuliert ist. Über diese Preisfrage berichtet Hulshoff, wie gesagt, Kant in seinen beiden Briefen ausführlich. Alle Einsendungen zu dieser Preisfrage kamen aus Deutschland (die Haarlemer Maatschappye veröffentlichte ihre Preisfragen in der Regel international), woraus sich ablesen läßt, daß die niederländische Kant-Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf einem solchen Stand war, daß über die neue Philosophie auf hohem Niveau geschrieben werden könnte. Prämiert wird die lateinisch verfaßte Abhandlung des ausgewiesenen Antikantianers Johann Christop Schwab; Ludwig Heinrich Jacob bekommt zusammen mit dem Lübecker Pädagogen und Antikantianer, wie Hulshoff ihn nennt (vgl. [19, Bd. 11. 259]), Friedrich Daniel Behn, die silberne Medaille. Unter den Einsendungen befanden sich außerdem Beiträge von dem Leipziger Kantianer Karl Gottlob Hausius und dem Kantianer und Gymnasiallehrer Christian Wilhelm Snell aus Idstein.
Hulshoff gehört neben Gerit van der Voort, dem anderen Gewinner der vorhergegangenen Preisfrage der Akademie, zur Jury. Aus seinem Brief an Kant geht hervor, daß beide Juroren die Abhandlung Jakobs für die beste hielten, sich jedoch mit diesem Urteil bei den anderen, „schon sehr alten“, wie Hulshoff ironisch schreibt, Jurymitgliedern nicht durchsetzen konnte.
Die dritte Preisfrage der Maatschappye ist von Hulshoff selbst formuliert und fragt nach einem ersten allgemeinen Grundsatz sittlicher Pflicht: „Seit langem sucht man nach dem ersten allgemeinen Grundsatz sittlicher Pflicht, woraus sich alle besondereren Hauptpflichten ableiten lassen; die Schriftsteller des sittlichen Gefühls [gemeint ist freilich der moral sense, E.-O.O.] scheinen sich diesbezüglich in einiger Verlegenheit zu befinden und Herr Kant hat einen Grundsatz aufgewiesen (Hinweis auf GMS², 52), den einige dunkel, andere für unsicher oder unfruchtbar halten (Hinweis auf KpV, Vorrede 14-17, und Hulshoffs eigene, anonym erschienene Schrift Zeno. Over ongeloof en zeden, Amsterdam 1790, S. 10). Deshalb wird gefragt, ist es vernünftig, notwendig oder nützlich, nach einem solchen ersten allgemeinen Grundsatz zu suchen, und wenn ja, wie lautet dieser.“
Aus acht eingegangenen Abhandlungen wird in 1793 die des Amsterdamer Juraprofessors Hendrik Constantijn Cras (1739-1820) ausgezeichnet. Außerdem nimmt auch wieder der Stuttgarter Schwab an der Preisfrage teil, ohne jedoch prämiert zu werden. Cras setzt sich in den achtziger Jahren zunehmend mit dem Kantianismus auseinander. Er bleibt jedoch kritisch, besonders hinsichtlich des kategorischen Imperativs, den er für zu abstrakt hält. Einer seiner bedeutendsten Lehrlinge ist der spätere Staatsmann Anton Reinhard Falck (1777-1843). Er promoviert 1799 bei ihm über die Ehe bei Kant und Fichte [7] und gehört zu den einflußreichen Kantianern in Holland.
Fazit: die früheste niederländische Kant-Rezeption setzt sich vornehmlich mit den Grundlagen der kantischen Moral- und Religionsphilosophie auseinander. Daß tatsächlich nur eine Untersuchung dieser Grundlagen über Sinn oder Unsinn der Kantischen Philosophie zu entscheiden vermag, ist eine m. E. bedeutsame Einsicht dieser frühesten Kant-Interpretation. In Deutschland hat genau eine solche Auseinandersetzung mit Kant eine, wenn nicht sogar die bedeutsamste Periode der Philosophiegeschichte eingeläutet, nämlich die des deutschen Idealismus. Zu einer auch nur vergleichbaren philosophischen Leistung fehlten in der damaligen Niederlande die geistigen Kräfte, aber sicherlich auch die dafür nötige institutionelle Einbettung, wie sie etwa in Deutschland die viel moderner eingerichteten Universitäten geboten haben.[16]
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Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:
Onnasch, Ernst-Otto. Die erste Rezeption der Philosophie Immanuel Kants in der Niederlande. // Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd. 1. Kaliningrad, 2005. S. 105 – 116.
[1] Er ruft auch andere Philosophen dazu auf, sich an dem Projekt zu beteiligen.
[2] Relativ gut erforscht dagegen sind die Einflüsse der Kantischen Naturphilosophie um 1800 in Holland. Und das ist bemerkenswert, da ja bekanntlich gerade die Naturphilosophie Kants zu dieser Zeit kaum wahrgenommen wurde, vgl. [31,153-169] ders. “Het gezelschap der Hollandsche scheikundigen. Amsterdamse chemici uit het einde van de achttiende eeuw“, [30]
[3] Vgl. dazu [36, 526-551]. – Die bedeutsamsten philosophiehistorischen Abhandlungen aus dem 19ten Jh. sind von [22], [2]; ders., Philosophy in the Dutch Universities// Mind 3 (1878)[1, 87-104]; [26, 121-159] und [5].
[4] Hier ist besonders das Buch des Belgiers, aber in Hamburg lehrenden [3], zu erwähnen.
[5] [4] (die Schrift ist bislang nicht gefunden).
[6] Hier werden Lehrsätze Kants meist nur kurz referiert, ohne tiefer auf sie einzugehen, so Bd. 1, S. 30 Anm., 52 Anm., 55 (hier geht hervor, daß Van der Voort die KrV gelesen hat), Bd. 2, S. 110 f. Anm., wo Kant zum Deterministen gemacht wird, obwohl van der Voort auch zugibt, Kants “regte meening … tot nog toe, niet wel gevat” zu haben [Kants genaue Meinung bislang nicht genau erfaßt zu haben]), 203 f. Anm., wo Kants Gottesbeweis unter Hinweis auf KpV 219 referiert wird.
[7] Eine der großen Schwächen der Darstellung Sassens ist genau, daß er diesen rezeptionshistorischen Umstand nicht richtig im Visier hat. Sein Buch konzentriert sich stark auf die Universitätsphilosophie.
[8] Zur Kant-Rezeption in der Niederlande vgl. auch [37, 450-466]; Ferdinand Sassen oben Anm. 2; [8, 304-315]; ders., [18, 7-20]; [32, 483-501]; die Einleitung von Friedrich W. Dethmar, “Kurze Geschichte der Schicksale der kantischen Philosophie in Holland“, in dem Buch von Paulus van Hemert, Ueber die Existenz der prinzipien eines reinen uneigennützigen Wohlwollens im Menschen, Dortmund 1799; [11, 1-42].
[9] Seine einzige Biographie ist von Willem de Vos. Leven en Character van Allard Hulshoff. Amsterdam, 1795.
[10] Zu Engelhard vgl. [38], hrsg. von [21, 149-161].
[11] [13]. Dieses Buch erscheint 15 Jahre später auch in deutscher Übersetzung Alethophili Phileusebii, Betrachtung der besten Welt, oder philosophische Betrachtungen über die Güte und Weisheit Gottes, die Freyheit des Menschen, und seinem Zustande in diesem und jenem Leben. Amsterdam/Leipzig, 1783.
[12] Ein weiteres Mal könnte Kant 1769 auf Hulshoff aufmerksam geworden sein. In diesem Jahr erscheint nämlich dessen Preisschrift anläßlich der in 1767 von der Königl. Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenen Preisfrage unter dem Titel Discours sur les penchans in Berlin im Druck. Die deutsche Übersetzung Untersuchung über die Neigungen, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin für d. J. 1767 ausgesetzten Preis erhalten hat, Leonhard 1769, ist von, [16, 529-531], sehr gelobt.
[13] Es geht um die Passage, [24, 292-305]. Zu dieser Preisfrage vgl. den „Voorbericht“ in Bd. 17 der Verhandelingen van de Maatschappye, Haarlem 1790, S. ix f.
[14] Vgl. [34, 124]: “Doch der Maatschappy en my zelven gaan de belangen van den Godsdienst ook in deezen ter harten; zo dat het, misschien, eenige voldoening zou geeven, sommige Bedenkingen voor te dragen, betrekkelyk tot de Kantiaansche Wysbegeerte in het gemeen, en wel byzonderlyk over de nieuwste geschillen, raakende de Bewyzen van Gods aanwezen. Indien dit opstel eenige goedkeuring mogt wegdragen, zal de Schyver, waarschynlijk, opgewekt worden, om zig ook daartoe te verledigen” [„Doch der Maatschappye und mir selbst gehen die Interessen der Theologie auch hier zu Herzen, so daß es vielleicht einige Befriedigung gäbe, einige Überlegungen hinsichtlich der Kantischen Philosophie im allgemeinen vorzutragen, und zwar insbesondere über die neuesten Streitigkeiten, welche die Beweise von Gottes Dasein betreffen. Wenn dieser Aufsatz auf einige Zustimmung rechnen darf, wird der Autor wahrscheinlich ermuntert werden, sich auch selbst damit auseinanderzusetzen.“]
[15] Was ja auch schon Christian Gottfried Schütz in einem Brief vom 3. November 1786 an Kant bemängelte, vgl. [19, Bd.10. 469f]
[16] In the dearest memory of the 3 Bs.